Es leben

Rudi-Carrell.jpgLiebe Frau Andrea,
„ich habe mein Leben gelebt“, schrieb Rudi Carrell im Abschiedsbrief kurz vor seinem Tod. Mittlerweile werden aber nicht nur Leben sondern auch Enthusiasmus, Barmherzigkeit und Kirche, Verträge und die Marktwirtschaft und – laut google – 245.000 andere Dinge gelebt. Wie stehen Sie zum rasant um sich greifenden transitiven Gebrauch des Verbums “leben”?
Liebe Grüße aus den Wiener Gasometern,
Matthias Fauner
Lieber Matthias,
trotz aller sprachpolizeilichen Bedenken begrüsse ich diese Enthemmung. Sprachregeln und der Wortebau müssen gelebt werden! Wenn die Mühlen der Existenz von Humorfreiheit betrieben werden, muss doch wenigstens die Sprache gelacht werden. Ich weiss, dass der Bäcker unten am Eck sein Geschäft weder schupft noch schmeisst, ich weiss, dass er die Bäckerei lebt. Von der Kaisersemmel bis zum Salzstangerl, vom Milchlaberl bis zum Linzeraug. Zu Mittag im Beisl bestelle ich gelebtes Gulasch. Von einem Ober serviert, der den Kellner lebt. Von meiner Schulfreundin höre ich, dass sie inzwischen die Lesbe lebt und nicht das Reisebüro. Überhaupt gehört mehr gelebt. U-Bahn-Netze, Radwege und Parkraum, das Parlament, die Demokratie, die Zivilgesellschaft. Nicht gelebtes Fernsehprogramm wollen wir ebenso verachten wie ungelebte Gesundheit. Lasset uns Räume leben und die Zeit und den Sinn! Schliesslich wird auch diese Kolumne nicht geschrieben und recherchiert, nicht verfasst und redigiert, sie wird von arteriellem Herzblut gelebt!
www.comandantina.com dusl@falter.at
Für meine Kolumne ‚Fragen Sie Frau Andrea‘ in Falter 41/2006

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