Blue Moon. „Man macht es einfach“

Nach zwölf Jahren Vorbereitung kommt „Blue Moon“, der erste Spielfilm von „Falter“-Mitarbeiterin Andrea Maria Dusl, ins Kino. Ein Gespräch über eine Parallelwelt namens Osten, über österreichische und ukrainische Josef Haders, über die Farbe Rot und die Heimeligkeit von Beton. WOLFGANG KRALICEK und KLAUS NÜCHTERN

Originaltext aus Falter 42/02 vom 16.10.2002

cover02_42.jpgDas Spielfilmdebüt von Andrea Maria Dusl beginnt auf hohem Niveau: Eine Frau geht eine lange, steile Stiege hinab – es handelt sich um die wohl berühmteste Stiege der Filmgeschichte. Hier, in der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer, wurde Sergej Eisensteins Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) gedreht. Wie die Frau auf die Stiege gekommen ist, erfährt das Publikum erst neunzig Minuten später – dazwischen liegt „Blue Moon“, ein Roadmovie, das vom Stadtrand Wiens über Bratislava und Kiev bis nach Odessa führt.
Nach einer missglückten kriminellen Transaktion flieht Johnny Pichler (Josef Hader) gemeinsam mit dem Callgirl Shirley (Viktoria Malektorovych) in Richtung Osten. Er verliert die mysteriöse Fremde wieder, fährt ihr nach – und findet im ukrainischen Lviv (dem ehemaligen Lemberg) ihre nicht minder geheimnisvolle Schwester Jana, eine Taxifahrerin. Erst nach zahlreichen Hindernissen und Umwegen endet die Reise, auf der Pichler zwischendurch von dem im wilden Osten gestrandeten Geschäftsmann Ignaz (gespielt vom deutschen Komödienregisseur Detlev Buck) begleitet wird, schließlich am Fuße der Stiege, im Hafen von Odessa.

Mit ihren 41 Jahren ist Andrea Maria Dusl als Filmemacherin eine Spätstarterin. Die Wienerin studierte Bühnenbild an der Akademie am Schillerplatz (Meisterklasse Erich Wonder) und Medizin (abgebrochen) und ist Falter-Lesern seit 1993 als Zeichnerin, Autorin und Kolumnistin („Fragen Sie Frau Andrea“) ein Begriff. Das Spielfilmprojekt hat Dusl seit ungefähr zwölf Jahren im Kopf – die Idee kam ihr knapp nach dem Fall der Berliner Mauer. Uraufgeführt wurde „Blue Moon“ im vergangenen August beim Internationalen Festival von Locarno; es gab zwar keinen Preis, aber gute Presse, Einladungen zu anderen Festivals – und erfolgreiche Verkaufsgespräche: Bereits Ende Oktober startet „Blue Moon“ in den deutschen Kinos; die Schweiz, Holland und Italien folgen nächstes Jahr.

FALTER: Ich habe dir vor über zehn Jahren einmal Geld gegeben und damit einen Kader eines noch nicht existierenden Films von dir gekauft. Kann ich den Kader jetzt haben? Ist „Blue Moon“ endlich der Film, den ich co-finanziert habe?

ANDREA MARIA DUSL: Nein, du hast das Vorläuferprojekt unterstützt: „In achtzig Tagen um die Welt“. Der Plan war, achtzig zweiminütige Kurzspielfilme zu machen, sie mit privaten Sponsoren zu finanzieren und ins Kino zu bringen. Ich habe aber nur die ersten sechs Tage geschafft.

Geht „Blue Moon“ auf dieses Projekt zurück?

In Ansätzen, weil das Thema der Reise in den Osten schon vorhanden war. Allerdings haben sich in den zwölf Jahren, die mittlerweile vergangen sind, die Schauplätze so radikal gewandelt, dass ich das immer wieder umschreiben musste.

Wobei der Film ja keinen dokumentarischen Charakter hat, sondern eher einem Märchen gleicht. In Wirklichkeit wäre Johnny Pichler vermutlich knapp nach der Grenze erschossen worden.

Nein, gar nicht. Ich kann euch versichern, dass alle Geschichten, die in den Film eingeflossen sind, so oder so ähnlich tatsächlich passiert sind!

Was fasziniert dich denn am Osten?

Dass er eine Parallelwelt war. Wir sind ja in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass hinter dem Eisernen Vorhang der so genannte Russe nur darauf wartet, uns in den Weltkommunismus einzugemeinden, was auch längst schon geschehen wäre, wenn es die Amerikaner und das Gleichgewicht des Schreckens nicht gegeben hätte. Aber diese Propaganda habe ich nie geglaubt. Schon als Kind nicht. Man hat immer nur Militär und Paraden gesehen, und ich habe mir gedacht: Da muss es doch auch Menschen geben. Außerdem kommt meine Familie ja ursprünglich aus Tschechien, und die Familiengeschichten waren genau das Gegenteil von böse. Diese Wurzeln wollte ich wieder finden.

Wann bist du denn zum ersten Mal in den Osten gereist?

Mit vier Jahren. Und die Ästhetik der Moderne, die dort viel stärker präsent war, hat einen so starken Eindruck hinterlassen, dass ich mich an Orten wie dem Stadionbad immer sehr wohl gefühlt habe. Alles, was aus Beton ist, hat für mich immer etwas sehr Heimeliges gehabt. Das dürfte aus dieser Zeit stammen. Als ich dann später, zu Beginn meines Studiums, nach Prag gefahren bin, war das auch eine Begegnung mit der Wirklichkeit: Es war schlimm zu sehen, dass der Kommunismus die Menschen nicht nur unfrei gemacht, sondern einfach gebrochen hat.

Aber „Blue Moon“ spielt ja in der Gegenwart. Was hat dich daran interessiert?

Diese Mischwelt aus dem, was der Kommunismus aus der Vergangenheit herausgeschnitzt hat, und dem, was an Neuem aus dem Westen importiert wird.

Wobei der Westen ja eigentlich nicht vorkommt: Man sieht keinen McDonald’s und kein einziges Coca-Cola-Schild.

Das sieht man im normalen Straßenbild auch kaum. Die Abwesenheit von Coca-Cola-Schildern hat aber einen anderen Grund: Aus ästhetischem Kalkül haben wir auf Rot und Gelb verzichtet.

Rot ist doch das Kleid des Püppchens in der Flasche, die Johnny und Jana im Motel finden.

Genau. Und damit das eine größere Wertigkeit bekommt, habe ich alle anderen Rots aus dem Film verbannt.

Gibts nicht einmal rote Ampeln?

Ich glaube, ich habe sogar die roten Ampeln verhindert. Es gibt aber natürlich rote Fahnen.

Und Gelb?

Gelb ist das Taxi von Jana. Und das muss als Signal natürlich auch unverbraucht bleiben.

Wie waren die Drehbedingungen?

Sehr charmant.

War es so, wie man sich das vorstellt – dass man ständig Leute schmieren muss und dauernd mit Mafiosi zu tun hat?

Ganz anders. Das Vorurteil besagt, dass alles voller Mafiosi ist, dass Urteil jedoch lautet, dass alles mit Geschäftsmännern voll ist.

Westlichen?

Östlichen. Die westlichen Geschäftsmänner sind den östlichen untertan.

Und welche davon haben nun die Dreharbeiten ermöglicht?

Es ist so, dass man im Wesentlichen einen großzügigen Vertrag mit einer Sicherheitsfirma abschließt und damit alles paletti ist. Mit irgendeiner Mafia hat man nicht den geringsten Kontakt.

Wer weiß, wem die Sicherheitsfirma gehört?!

Unsere hieß „Titan“. Die Leute hatten sehr hübsche, schwarze Uniformen und blank geputzte, frisch geölte Kalaschnikovs und haben uns extrem gut betreut.

Und du konntest dann überall drehen?

Fast. Ich wollte unbedingt in Dnjepropetrowsk drehen, der Stahlmetropole der Ukraine, in der zweieinhalb Millionen Menschen leben. Die Security-Firma hat allerdings gesagt, dass wir überall sonst, nur nicht in Dnjepropetrowsk drehen können. Dort könnten sie für unsere Sicherheit nicht mehr garantieren, weil die Security-Firma von Dnjepropetrowsk mit den Sicherheitsfirmen der Rest-Ukraine nicht zusammenarbeitet.

Aber in dem Film steigen Johnny und Ignaz ja in Dnjepropetrowsk aus dem Bus?

Sie steigen nicht wirklich in Dnjepropetrowsk aus, die Szene ist in Kiew gedreht. Aber wären sie in Dnjepropetrowsk ausgestiegen, hättest du den Unterschied nicht gemerkt.

Du hast zwölf Jahre an dem Projekt gearbeitet – was hat denn so lange gedauert?

Es hat ja niemand auf dieses Thema gewartet oder gesagt: „Frau Dusl, machen Sie doch endlich einen Film mit uns!“ Wenn ich vor zehn Jahren jemand gefunden hätte, der das auch produzieren wollte, wäre es natürlich wesentlich schneller gegangen.

Du hast ein Bühnenbilddiplom, zeichnest, hast begonnen, Medizin zu studieren … Warst du „eigentlich“ schon immer Filmemacherin?

Ja, genau. Im Ernst. Meinen ersten Film habe ich mit zwölf gemacht – eine Super-8-Dokumentation einer Londonreise mit meiner Mutter. Alle anderen Unternehmungen waren eigentlich Erfüllungsgehilfen meiner Sehnsucht nach dem Kino.

Deine legendären Panoramazeichnungen für das „FORVM“ …

… waren im weitesten Sinne Cinemascopefilme.

Wie soll man sich deine Sehnsucht nach dem Kino vorstellen? Bist du eine Cineastin?

Es hat eine Zeit gegeben, in der bin ich zweimal täglich ins Kino gegangen.

Der Film beginnt ja auch mit einem großen Zitat. Eine Hommage?

Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ wurde genau auf dieser Stiege in Odessa gedreht – allerdings wurden die Stufen in der Zwischenzeit ausgewechselt; bei Eisenstein sind sie sehr abgewetzt. Ich wollte mit dieser Treppe aber kein Zitat bringen, sondern den Ort mit ganz normalen Bildern neu besetzen.

Wie hat denn das Casting funktioniert? Wie wichtig war es, dass Josef Hader und Detlev Buck marktgängige und populäre Namen sind?

Ich war in erster Linie der Geschichte verpflichtet, aber natürlich wird es in Hinblick auf die Finanzierung einfacher, wenn da klingende Namen dabei sind.

Mit anderen Worten: Es wäre komplizierter gewesen, die Hauptrolle nicht mit Hader zu besetzen als einen Star wie Hader für ein Regiedebüt zu kriegen?

Genau. Und nachdem ich in der österreichischen Kinowirklichkeit damals nicht gerade als Star gehandelt wurde, mussten das andere übernehmen.

Hattest du keine Angst, dass sich ein arrivierter Regisseur wie Detlev Buck bei deinem Regiedebüt einmischen wird?

Nein, denn eine Qualität von Regisseuren ist es ja, zu wissen, was sie tun. Und genau das hat der Detlev gewusst: dass er hier eben als Schauspieler engagiert ist. Wenn er gesagt hat, dass er etwas anders machen würde, dann in dem Sinne, dass die einen halt Kaffee und die anderen eben Tee trinken.

Was wurden eigentlich aus den beiden schwulen Dentisten aus Bochum, die von Tex Rubinowitz und Thomas Kussin dargestellt werden hätten sollen?

Die sind im weitesten Sinne der Stringenz der Handlung zum Opfer gefallen. Ursprünglich hätten sich die in einem ungarischen Dampfbad an Johnny Pichler heften und ihn für die Suche nach der Tochter von Marcello Mastroianni missbrauchen sollen, von der sie behauptet hätten, dass sie jetzt Opernsängerin in Dnjepropetrowsk sei.

Jetzt verstehen wir, dass du das lieber nicht verwendet hast. Überhaupt sind wir sehr erleichtert, dass „Blue Moon“ kein Kabarettfilm geworden ist.

Ich weiß wirklich nicht, was das ist! Ich kenne viele Kabarettisten und bin mit manchen befreundet, war aber mein Leben lang nur zwei Mal im Kabarett – einmal mit Wolfgang Kralicek bei Alfred Dorfer und ein anderes Mal mit Willi Resetarits in einem Programm von dessen Bruder Lukas. Ich habe auch den Josef Hader nur in Filmen im Fernsehen gesehen und nicht als Kabarettisten.

Wie macht man eigentlich einen Film, wenn man noch nie einen Film gemacht hat?

Die kurze Antwort lautet: Man macht es einfach. Die lange Antwort lautet: Es geht eh fast von selbst. Filmemachen ist keine solitäre Angelegenheit, und das Team macht das ja nicht zum ersten Mal. Ich habe zwar keine Ausbildung im akademischen Sinne, habe aber sehr viel in minderen Positionen beim Film gearbeitet – habe an der Ausstattung mitgearbeitet, Regieassistenz gemacht, am Drehbuch mitgeschrieben, beim Schnitt assistiert …

Was waren das für Filme?

Am Anfang Filme der Filmakademie, weswegen ich sehr viele Protagonistinnen des österreichischen Filmwunders auch persönlich kenne. Und als ich am Akademietheater bei George Taboris „Mein Kampf“ Bühnenbildassistentin war, habe ich sämtliche Zeit dazu genutzt, Tabori und Ignaz Kirchner über alle Parameter des Schreibens, Inszenierens und Spielens auszufragen. Das hat mir sehr viel gebracht.

Dass Josef Hader der einzige österreichische Darsteller ist, fällt eigentlich angenehm auf. Wie hast du denn die ukrainischen Schauspieler gefunden?

Das sind die Haders und Julia Stembergers der Ukraine und Slowakei! Es gibt keine Nebenrolle, die nicht mit Topleuten besetzt ist. Der Polizist im Gefängnis ist einer der wichtigsten ukrainischen Schauspieler, der LKW-Fahrer ist ein gefeierter Serienheld, und Viktoria Malektorovych ist der absolute Star: Sie musste während der Dreharbeiten ständig Autogramme geben. Auf der Stiege von Odessa waren siebzig Maturaklassen unterwegs – es ist lokaler Brauch, dass die Maturanten ihre Ausgewählte der Klasse da hochtragen müssen. Da war es selbst der Security unmöglich, die Stiege zu räumen. Also habe ich einen simplen, bösen Trick angewandt und mit Megaphonen verkünden lassen, dass jeder, der in dem Film im Bild sein möchte, zehn Dollar zahlen muss: Die Stiege war sofort leer!

Erstlingswerke sind meistens autobiografisch. Was steckt von dir in Johnny Pichler?

Gar nichts. Dieser Johnny Pichler ist wie ein Bruder für mich, den ich dabei beobachte, wie er seine Geschichte erlebt. Ich weiß von dem selbst gar nicht viel. Ich weiß aber sehr viel von der Jana, die ist mir viel näher. Von allen Figuren bin ich dort am meisten drinnen. Der Johnny ist zwar die Hauptfigur, aber sie ist für die Geschichte mindestens genau so wichtig.

Er ist der Fahrer, der durch den Film fährt, die Kamera.

Er hat viele Funktionen, das hat es auch für den Josef so spannend gemacht, diese Rolle, die so minimalistisch angelegt ist, mit seinem Feuer zu entzünden. Es hat mich manchmal geschreckt, wie sehr er mit dieser Rolle verwachsen ist, die ich mir ausgedacht hab!

Was ist dein nächstes Projekt?

Es wird CHANNEL 8 heißen und sich im weitesten Sinne mit Wahrnehmung und in engerem Sinne mit der Geschichte zweier Menschen beschäftigen: ein Fernsehjournalist und eine junge Malerin, die in St. Petersburg und Paris leben und auf eine atemberaubend unglaubliche Art miteinander verbunden sind.

Dauert das jetzt wieder zwölf Jahre?

Nein, das geht schneller. Die Startbedingungen der kleinen Andrea haben sich jetzt ja ein bisschen verbessert.

Wie viel verdient man eigentlich als Filmregisseurin?

Es ist kein Geheimnis: Film ist gut bezahlt und findet selten statt. Also, es gibt Berufe, in denen man sich blöder verdienen kann.

Bleibst du dem „Falter“ erhalten?

Da fährt die Eisenbahn darüber.


Bei der Viennale läuft „Blue Moon“ am 26.10., 11 Uhr, im Metro und am 28.10., 20.30 Uhr, im Gartenbau. Kinostart ist am 8.11.2002

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