Novemberstille

Für die Kolumne „Index Wiengefühl“, in: Falter 46-1995.

Konsum: Hasi „Ostbahnhofs“ Lapinski überzeugt zufälige, wie Stammgäste mit einer Leberknödelsuppe superber Qualität. Die Bouillon sah Rindsknochen und Fleisch von Innen. Die lebernen Knedli waren von geschmeidiger Eleganz, die Temperatur der Soupe von ausgesucheter Moderatheit und gezielter Würze. Plus für programmatisch unethnisch, aber gut arbeitende Wiener Küche des aussenpolitischen Profilisten. Das Schweizerhaus schließt die Tore dieser Saison. Jan Karl Kolarik feiert 220 Jahre Biergarten im Prater und sein eigenes halbhundertjähriges Wiegenfest. Plus für böhmische Tradition in stürmischen Zeiten. Die täglichen Nachtbusse erfreuen sich großer Beleibheit. Der Zorn der Taxler hält sich in Grenzen. Ihr Geschäft erleidet durch Öffi-fahrende Kids nicht die Einbußen, die große Fuhrunternehmer herbeigezetert hatten. Plus für friedliche Nachtheimreise.

Republik: Seltsame Ruhe vor dem Sturm. Die politischen Parteien schmieden Parolen und Konzepte für den heissen 17. Dezember. Runde Tische werden guter Schminke bedürfen, heißt es, oder televisionärer Tauglichkeit. Uralt-Bänder der Nixon-Kennedy-Fernsehdebatte werden studiert und Wolfgang Schüssel scharrt in den Archiven, wie denn das damals, zu Raab-Kamitz’ Zeiten war. Wahlentscheidend, so vermuten alle, werden weder persönliche Briefe ans Volk, noch popularisierende Plakate, nicht Streetwork, noch meinungsbildende Komentare aufmerksamer Journalisten, sondern einzig allein die brutale Wirklichkeit Live gesendeter Konfrontationen der Stimmwerbenden Parteimagnaten sein. Plus für offene Runden.

Kultur: Ernst, des schweigsamen, Dokupils Grünweiße besiegten Sporting Lissabon nach Verlängerung 4:0. Ein großer Heimsieg der Rapidler öffnet die Tür zur dritten Runde im XXX. Ein moderater Johann Krankl, der Metalliseewolf, konnte seine Emotionen nur mit Mühe unterdrücken. Schöner als Rapidspieler zu sein, kann es nur sein, Trainer der Hütteldorfer zu sein. xxx spielten ein fulminates Konzert in der Szene Wien. Anläßlich des Weltspartages fanden sich zahlreiche Gäste in der Lenaugasse ein, um dem Spargedanken zu huldigen. Plus für anonyme Anleger.

Medien: Das Wuk, Alsergrunder Kulturwerkstatt, entwächst nach 15 Jahren den Kinderschuhen und verpaßt sich eine Corporate Identity. Seine neue Zeitung nennt sich Triebwerk. Plus. Willi, Dr. Ostbahn, Resetarits, Kämpfer für Gleichheit vor dem Herrn und Integration vor dem Österreicher ist dem Spiegel zwei Seiten wert. Plus für aufmerksame Bundesdeutsche. Das Wirtschaftsblatt ist bis jetzt noch nicht eingegangen. Minus für Bronner, der aus Angst vor der zweifelhaft finanzierten Postille viel Energie entwickelte. Heißluftballone brauchn Wind. Wind bläst nicht auf Kommando.

Umwelt: November entzückt mit Schneewolken und kräftigen Winden. Es ist kalt, und doch nicht Winter. Depressive buchen Flüge nach Helsinki, dort ist es noch kälter und noch depressiver.

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