Warum lesen wir im Schinken?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 42/2024 vom 16. Oktober 2024

Liebe Frau Andrea,
ich lese im Urlaub gerade ein recht dickes Buch und genieße dazu ein Schinkenbrot. Nun kommt mir in den Sinn, dass ein dickes Buch auch oft Schinken genannt wird. Ich hab mich das schon oft gefragt, aber bilde mir ein, dass ich noch nie ein Antwort darauf bekommen habe. Können Sie mir mit meiner Schinkenfrage weiterhelfen? Ich freue mich auf eine Antwort.
Liebe Grüße,
Timo Muliar, 29, Wien Wieden, per Email

Lieber Timo,

die dicke Bücher haben wir alle schon in der Hand gehabt. In der Schule, in der Bibliothek, in der Bücherkiste am Flohmarkt, und wie Sie gerade, in Zeiten lesender Muße. Die Umgangssprache hält für das dicke Buch die Ausdrücke Ziegel, Schwarte, Schmöker, Schinken bereit. Sehen wir uns die Synonyme genauer an. Ziegel hat seinen begrifflichen Wert vom Gewicht und Format, von der Unhandlichkeit, mit der er den Lesenden in der Hand liegt. Schwarte, germanisch *swardu-, zunächst die behaarte Kopfhaut, dann auch die Schwarte am Speck nennen wir ein Buch mit dickem und speckigen, jedenfalls unansehnlichem Ledereinband. Der Schmöker, wie unsere nördlichen Nachbarn die angenehmeren Leseexemplare nennen, erinnert, ebenfalls wegen des Einbandes, an den Räucherschinken. Das Wort hat zum Begriff des Schmökerns für das liebevolle Lesen geführt. Ein anderer Deutungsversuch bezieht den Schmöker auf die Blätter eines Buches, die herausgerissen wurden, um als „Fidibus“ (Anzündhilfe) für die studentische Pfeife zu dienen. Im Lichte dieser Bedeutungen ist „Schinken“, mittelhochdeutsch schinke, althochdeutsch skinco, verwandt mit „Schenkel“, schon von der Dimension und Anmutung ein beliebtes Synonym für das dicke, alte und schwere Buch. Zu Zeiten der Entstehung des Begriffs trat uns der Brotbelag Schinken noch nicht dünn geschnitten und klarsichtfoliert entgegen, sondern wurde zu Festzeiten vom großen, schweren Schinkenschenkel geschnitten. Mit dem heute kaum noch haushältigen Schinkenmesser.

In Abwandlung der Bezeichnung für das schinkengroße Buch wurden auch alte, großformatige und üppige Ölgemälde als Schinken bezeichnet, meist in leicht despektierlicher Absicht, desgleichen der überlange, von Pathos triefende Historienfilm.


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