Unschuldsvermutung

Der Mensch ist undenkbar ohne seine Lust am Spiel. Und der österreichische Mensch undenkbar ohne das österreichische Spiel. Sei es am Domplatz oder auf der Kabarettbühne, am grünen Rasen oder am Wirtshaustisch. Nicht immer gibt es Gewinner, Helden sind oft tragische, einer hat immer das Bummerl. Früh übt sich, besonders in Österreich. In der Manege Klassenzimmer werden Talente sortiert und Karrieremöglichkeiten vorgezeichnet. Klassenclown, Streber, Mauerblümchen, Raufbold, Schulballprinzessin, der Rollen gibt es viele, sie werden spielend erlernt.

In Hinsicht auf politische (Aus-)Bildung darf ein Spiel genannt werden, das österreichische Menschen schon in der Schulzeit erlernen. Für angehende Politiker (und ihre journalistischen Begleiter) ist ein strategische Zeitvertreib von prägender Wirkmächtigkeit: Das beliebte Kinderkriegsspiel Schifferlversenken. Wir alle kennen die Regeln. Auf kariertem Schulheftpapier werden zwei Kästchen markiert, das eine für die eigene Flotte, das andere für die gegnerische. Im eigenen Kästchenozean werden Schiffe verschiedener Größe postiert (im späteren Politikerleben Projekte genannt), im anderen werden im Verlauf des Spiels die Abschußerfolge im Kontrahentenmeer markiert. Ziel des Spiels ist es, sämtliche gegnerische Schiffe zu versenken. Das Spiel lebt vom trügerischen Vertrauen darauf, dass der Gegner nicht schummelt und Treffer regelkonform berichtet. Das ballistische Hin und Her wird später „politische Debatte“ heißen.

Eine Erkenntnis der Kulturwissenschaft darf einsickern: Nicht wir spielen Schifferlversenken. Schifferlversenken spielt uns.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 23. Oktober 2021.

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