Österreichische Richtungen

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 16.7.2016.

Stadt und Land haben viel gemein. Kleinstadt und Kleinland noch mehr. Wie aber verhält es sich mit der Beziehung zwischen Großstadt und der sogenannten Provinz? Auch hier gibt es Gemeinsames. Aber die Verhältnisse sind kompliziert. Sprechen wir Klartext. Am Land bezeichnet man die Wiener gerne als „Gscheade“. Das verwundert diese (so sie es vergegenwärtigen) sehr, denn die Wiener bezeichnen ihrerseits alle Landbewohner als Gescheade. Haben etwa beide Recht? Assoziieren die einen womöglich gschead mit gscheit (städtisch, wienerisch, obergscheit), die anderen hingegen gschead mit geschert (geschoren, bäuerlich, trampelhaft)?

Schauen wir uns die Sache genauer an. Der Ausdruck “gschead” kommt von der frisurtechnischen Statusmeldung “geschert”, soviel wie geschoren. Damit bezeichnete eine österreichische Stadtbevölkerung im Mittelalter den Bauernstand. Wegen der Kürze ihrer Haare. War es doch unfreien Bauern seitens der Obrigkeit nicht erlaubt, das Haar lang zu tragen. Warum manche Landeier die Wienerbazi ihrerseits und ebenfalls als Gescheade bezeichnen, kann nicht mit endgültiger Sicherheit geklärt werden. Vermutet werden darf ein Gegenzauber in der Mechanik kindlicher Insultkultur: Wer’s sagt is’ selber.

Haarlänge, so der nächste Schritt in unsere Analyse, hat mit Freiheit zu tun und Freiheit mit Sprachmächtigkeit. Insoferne verbirgt sich also in der Fähigkeit der Provinzsoziologen, den Wienern Gscheadheit vorzuwerfen, das hohe Gut der Freiheit. Befinden sich doch statistisch gesehen mehr zugezogene Provinzler in der Stadt als Eingeborene, somit auch mehr Gscheade als am Land. Sollte uns die Großstadt deshalb als zu gschead vorkommen, könnten wir weiterziehen, in die nächsthöhere Kategorie an Urbanität. Wir könnten es mit Anton Kuh halten, der 1928 auf die Frage, warum er aus der doch sehr großen Stadt Wien auswandere, antwortete, er wolle lieber “in Berlin unter Wienern, statt in Wien unter Kremsern“ leben.

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