Wahlzelle und Marienerscheinung

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 21/2016 zum 25.5.2016.

Liebe Frau Andrea,
 ich war am Sonntag Wahlbeisitzerin in einem Wiener Sprengel. Eine Wählerin sang bei der Stimmabgabe und erzählte der Wahlkommission von multiplen Marienerscheinungen und starkem Glauben an “Hofer”. Ging es da mit rechten Dingen zu?
Liebe Grüße, Marie Töchterle, per Wolkenkabelbrief

Liebe Marie,

das Wort “Glaube”, verwandt mit “geloben”, hiess im Mittelalter “ga-loubjan” und hatte die Bedeutung “Vertrauen”. Wem wurde vertraut? Gott, Jesus, Maria? Weit gefehlt. “Glaube” ist etymologisch betrachtet “Lob”, semantisch gesehen aber nicht die Belohnung sondern der Köder. Noch heute werden Preise, Wettbewerbe, Stellen ausgelobt. Das Wort Lob kommt von einem anderen vertrauten Begriff: dem Laub. Es hat in der Frühzeit der indoeuropäischen Sprachen nicht weniger bedeutete, als das Vieh mit Laubbüscheln anzulocken. Glaube wäre demnach jene Zutraulichkeit, die gefüttertes, geästes Vieh entwickelt.

Wenig Freude dürften Glaubenskundige auch mit den etablierten Erkenntnissen über die physiologischen Grundlagen des Glaubens haben. Lange Zeit hatten Ärzte gerätselt, warum Nonnen und Mönche überdurchschnittlich oft an Schläfenlappenepilepsie erkrankten. Kam das vom Beten? Oder gar umgekehrt? Die Korrelation von Erleuchtung und Epilepsie war nicht erklärbar. Bis sich eines Tages bei der Gehirnuntersuchung eines religiös unauffälligen Patienten ein seltsamen Effekt manifestierte. Wurde die Schläfenlappenregion des Patienten mit einer Sonde elektrisch gereizt, berichtete dieser über tiefe Gefühle des Einseins mit Zeit und Raum, von grosser Gottesnähe und hellem Licht, von allgemeiner und durchdringender Verzückung. Symptome, die stark an die Erlebnisse erinnerten, mit denen spirituell Erleuchtete aller Religionen ihre Begegnung mit “Höheren Wesen” beschreiben.

Noch tiefer ins Eingemachte geht der amerikanische Genetiker Dean Hamer. Er hat Erbinformation isoliert, die direkt für die religiöse Empfänglichkeit verantwortlich sein soll. Das Gottes-Gen hat den profanen Namen ‚Vmat2‘. Nach Hamers Hypothese sollen die Träger dieses Protein-Codes für Erlebnisse zugänglich sein, die sie als mystische Erweckung, Erleuchtung, Einswerdung mit dem Universum interpretieren. Nachwahlbetrachtungen werden hier neue Erkenntnisse bringen.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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