Woher kommt das deutsche Märchenblut?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 03/2016 zum 20.1.2016

Liebe Frau Andrea,
da ich wieder mal ein paar Märchen gelesen hab, hat sich mir folgende Frage gestellt: Sind eigentlich nur deutsche Märchen so blutrünstig oder ist das international so?
Mit freundlichen Grüßen,
Stefan Schauer, per Email

Lieber Stefan,

hinter der Frage nach der Quanität fabulöser deutscher Grausamkeit verbirgt sich eine nach dessen Qualität. Und auch diese verbirgt die eigentliche Frage: Sollen Märchen blutrünstig sein? Ein erster Blick auf das Deutsche Märchen fällt erstaunlich unblutig aus. Der rote Lebenssaft ist oft in Metaphern verborgen, etwa im roten Käppchen des Mädchens, das durch den Wald geht – eine Anspielung auf die erste Menarche. Blut spielt im deutschen Märchen nur tropfenweise eine Rolle, allenfalls finden wir blutige Schuhe von verkleinerten Fersen, wie in Aschenputtel. Getötet, gemordet und gestorben wird hingegen viel im Deutschen Märchen.

Die Märchenforschung hat Grimms Märchen in französischer Vorgängerliteratur aufgespürt, wesentliche Erzählstrukturen verweisen auf antike germanische, griechische, lateinische, ja indische Mythenerzählungen. Carl Gustav Jung erklärte sich die kulturübegreifende Ähnlichkeit mancher Plots mit der Annahme eines Kollektiven Unbewussten der Menschheit, lassen sich doch Märchen bis in bronzezeitliche, ja steinzeitliche, schmanistisch geprägte Gesellschaften zurückverfolgen. Von einer spezifisch deutschen Märchengrausamkeit lässt sich angesichts dieser Zusammenhänge nicht sprechen. In Märchen werden zentrale Themen (archaischen) menschlichen Zusammenlebens verhandelt.

Ganz undeutsch ist die Gewalt im Märchen dennoch nicht. Die Forschung hat hat sie längst als Echo auf real erfahrene und mythenhaft tradierte Grausamkeiten des 30jährigen Krieges ausgemacht. Bis in Verästelungen des Unaussprechlichen, wie etwa das Motiv des Kinderkanibalismus während großer Hungersnot. Vermischt mit religiös befeuertem Frauenhass (das Motiv der Hexe!) tritt uns dieses etwa in Hänsel und Gretel entgegen. Der KZ-Überlebende und Psychoanalytiker Bruno Bettelheim hielt deutsche Märchen für pädagogisch wertvoll, weil sie stets gut ausgingen. Für andere Forscher führte Schneewittchen direkt zu Hitler. Wenn sie nicht gestorben ist, ist diese Debatte allerdings noch offen.

www.comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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