Vorsätze

Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 9.1.2016.

Die deutsche Sprache ist bisweilen übergenau. Verlassen wird die Pfade semantischer Konvention und lesen in den Wörtern selbst. Sehen wir uns die Vorsätze an. So bezeichnet die Buchbinderkunst, jenes Gewerbe, das aus bedruckten Bögen und drögem Karton nachtkästenfreundliche Bände fertigt, die erste (und letzte) Doppelseite eines Buches. Freilich ist ein Vorsatz kein Teil des Werkes, sondern nur sein Vorschein. Solch Vorsatz, auch Vorsatzpapier genannt, verbindet Buchdeckel und Buchblock und ist nicht selten die schönste, stets aber die stärkste Seite eines Bandes. Es gilt die Regel: Je schreiender der Inhalt eines Werkes der Gutenberggalaxis, desto bunter sein Vorsatzpapier. Luzide Philosophie und Transzendentalbelletristik gewanden sich meist in hellem Weiß.

Vorsätze erzählen also vom Inhalt. Und je tiefer geschürft wird, desto weniger wird davon im Vorsatz preisgegeben. Ausnahmen sind auch hier regelkonstitutiv. Es wurden schon Hegelbände mit Blümchenmuster gefunden und Herzschmerzliteratur mit bleichen Eingangsseiten. Für die Vorsätze, erfahrungsgemäß jene Seiten eines Buches, die den Lektürevorgang einleiten, werden gerne stärkere Papiere verwendet. Nicht selten führt diese Materialeigenschaft schon vor dem Lesen zu Verletzungen. Eifriger Lesewunsch geht mit heftigem Aufschlagen der Literatur einher. Wie schnell sich dabei blätternde Finger schmerzhafte Schnitte zuziehen, wissen Vielleser zu berichten. Vorsätze können gefährlich sein!

Vorsätze, so haben wir gelernt, sind Mittler zwischen den Welten und gleichermaßen Hülle wie Inhalt. Sie können optisch schmerzen und blutende Fingerkerben erzeugen. Was erzählt uns der Ausflug ins Gebüsch der Metaphern? Don’t judge a book by it’s cover, heißt es, beurteile kein Buch nach seinem Umschlag. Aber sieh dir die Vorsätze an! Je lauter, desto unlauterer. Wettbewerbe verzerren. In der Stille liegt die Größe.

Du sollst nur einen Vorsatz haben, sagen die Experten, und er soll lauten: Habe keinen Vorsatz. Und wenn doch, so soll er leise sein.

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