Ein stranger Guru

© Wolf Rosar
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Ich wurde immer nervöser. Es musste schon mindestens eine Viertelstunde gedauert haben, dass diese Ziegen an mir vorbeidrängten, auf diesem schmalen Pfad. Drängen war ein Euphemismus. Ich presste mich frontal gegen die Felswand, wegen der empfindlichen Stellen. Der ungefähr 1 ½ Meter breite und reissende Ziegenstrom trennte mich von einem Abgrund.
Die Ziegen waren gross und kräftig und schienen um ihr Leben zu fliehen. Sie überholten einander links und rechts und versuchten auch übereinander schneller vorwärtszukommen, wobei sie abrutschten und auch immer wieder in meine Richtung geschleudert wurden.
Die Böcke mit ihren weitausladenden Hörnern kamen mir gefährlich nahe, starke Böcke, stark riechende Böcke. Manche Ziegen wurden tatsächlich über den Rand des Pfades gestossen, kamen aber immer wieder irgendwie zurück. Das würde mir kaum gelingen, wenn sie mich einmal mitgerissen und über Bord gehen lassen hätten.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, „leer“ wie Buddha, also auch die Angst als Leere zu erkennen. Oder als Lehre – alter Witz, jetzt gar nicht lustig. Aber noch war ich wunderbarerweise kaum berührt worden, aber was, wenn diese Viecher vollends in Panik gerieten?
Endlich lichtete und verlangsamte sich das Gedränge, das Gemecker liess nach, und auch meine Anspannung. Ich löste mich vom Felsen, drehte mich um, ging in die Hocke, fiel erschöpft zurück auf meinen Hintern und dieser auf frischen Ziegenkot, wie ich deutlich spürte. Gleichgewichtsverlust durch Rucksack. So viel unnötiges Zeug schleppte ich mit, Schlechtwetterausrüstung und was weiss ich, aber die Tabletten gegen Höhenkrankheit standen immer noch auf der Truhe in dem Zimmer unten im Dorf. Das Wichtigste vergessen, das war mein Schicksal geworden.


Gemächlich kamen die Hirten und Hunde um die Ecke. Zigarettengeruch, leises Lachen.
„Up to the Guru?“
Diese Frage auf Englisch schien ihnen geläufig zu sein.
„Yes.“
Ich stand mühsam wieder auf. Scheiss Himalaya. Oberhalb der Felswand immer noch Bäume, in über 3000 Meter Höhe, das gibt’s bei uns nicht, in den Alpen. Höhenkrankheit… hätte nie gedacht, dass die so scheusslich sein kann. Ich war groggy wie ein Boxer, der nur noch mit letzter Willenskraft steht, und weil der Gegner auch zu fertig ist, um mit ihm Schluss zu machen. Wann war das gewesen? Du wirst nicht jünger. Höhenkrankheit ist überhaupt nichts mehr für dich. Überhaupt könntest du schon bescheid wissen, über diese Gurus. Ist doch immer das Gleiche.
Oben, auf einer Art Alm, stand ein mit Kabeln vertäuter Hubschrauber. Aha, Reichschwein-Guru. Aber nun war ich schon einmal da. Grosses altes Steinhaus mit Holzaufbauten. Security.
„ Ja, ich bin der, der telephonisch den Interview-Termin bekommen hat, sorry wegen der Verspätung.“
Beim Warten das Ansichtskarten-Panorama. Wie die Hohen Tauern, nur dass über den Wolken nochmals weisse Pyramiden in den unendlichen Äther ragten. Ja, unwirklich, wirklich war mein Kopfweh. Und mein Schwindel. Zweideutiges Wort. Ich durchsuchte den Rucksack zum dritten Mal – vergeblich. Keine Tabletten. Dafür die viel zu kleine leere Wasserflasche…
„Please leave your footweare outside “, stand auf einem Schild neben der schön geschnitzten antiken Tür.
Meine Bergschuhe waren voller Ziegenscheisse und rochen auch so.
Der Guru sah mich an, als ich eintrat. Er sass auf einem Bett, normal, mit den Füssen am Boden, nicht im Yogi-Sitz. Blue Jeans und weisser Kurta, also das überlange indische Hemd. Lange schwarze Haare, kein Bart, braune Haut. Gute Farben, Alter 40 plus? Zimmer roch angenehm, ich wahrscheinlich weniger.
Ich sagte „Namasté“, das Göttliche in mir grüsst das Göttliche in Dir.
Der Guru sagte „Hi“.
Ich stand blöd da. Auf der anderen Seite des grossen Bettes, das in den Raum ragte, hinter dem Guru, standen ein schönes indisches Mädchen in einem kostbaren Sari und eine Art Sekretär in schwarzer Hose und weissem europäischen Hemd ohne Krawatte. Sie sollte er später Kavya nennen („das Gedicht“), den Sekretär King Tschuk (King?). Alle barfuss und entspannt, ich in heissen, durchgeschwitzten Socken.
Der Raum war wohltemperiert, einfach und spärlich möbliert, sauber. Im Kontrast dazu fühlte ich mich wie aus dem Misthaufen gekrochen. Endlich sagte der Guru,
„Bitte, setz Dich“.
Nichts zum Sitzen. Ich musste mich auf den Teppich am Boden setzen. Hasste das. Aufschauen zum Guru.
„Du wolltest mich sprechen?“
„Ja, ich …“
„Du bist interessiert an Gurus?“
„…Ja…eigentlich…“
„Nur Idioten interessieren sich für Gurus, Leute, die nicht mit sich selbst zurechtkommen können. Ein Guru kann nur ein Spiegel für sie sein. Sie sehen einen Menschen, der nicht mit sich selbst zurechtkommen kann, dauernd Bestätigung braucht oder gar Anbetung. Genau das wünschen sich die Leute, die sich für Gurus interessieren, für sich selbst. Kein Wunder, dass sie den Guru früher oder später in Frustration und Verachtung verlassen, was sonst? Lauter Idioten und ein Meister-Idiot, sei willkommen.“
Ich suchte in den nun tasächlich leeren Räumen meines Gehirns nach irgendeiner Antwort aber mir fiel nichts ein. Ich war fertig. Mir war nicht gut.
„Tee?“
„Ja, bitte.“
Immerhin. Der Guru sagte etwas zu seinem Sekretär auf Hindi, irgendwas mit „TV program“. Der Sekretär sagte „Achha“ und brachte die Zeitung.
„Chelsea spielt in zwei Stunden“, sagte der Guru zu mir, „Gott sei dank haben wir hier Satelliten-Empfang“.
„Gegen wen spielt Chelsea?“, fragte ich mühsam.
„Gegen Manchester United, sagte der Guru.“
„Manchester United hat den Verlust von Ronaldo noch nicht verdaut“, konnte ich zu meiner eigenen Verwunderung beitragen.
„Ja,“ sagte der Guru, „Chelsea hat die besseren Spieler und ist das bessere Team“.
Die Schöne im Sari gab mir einen gefüllten Metallbecher in die Hand, und ich stellte ihn sofort auf den Boden, denn er war zu heiss.
„Immer schön am Rand halten“, sagte der Guru, „deshalb ist dieser so praktisch nach aussen gebogen.“
Ich nahm einen vorsichtigen Schluck. Das übliche übermilchte süsse Zeug namens Chai, aber es gab Energie.
„Warum trittst Du nicht zurück, wenn der Guru-Job so idiotisch ist?“ fragte ich.
„Alles ist idiotisch“, sagte der Guru, „mit Ausnahme von Fussball, vielleicht. Und ausserdem kann ein echter Guru nicht zurücktreten. Die Leute würden das nur als ultimativen Beweis seiner Vollkommenheit verstehen und ihn umso mehr verehren. Ich bin verloren. Auf ewig. Wie Du.“
„Warum bist Du dann überhaupt Guru geworden?“
„Weil ich meinen Guru sehr gern gehabt habe. Als ich ihm einmal sagte, was ich gerade vorhin zu dir gesagt habe, über den ganzen Idiotismus der Guru-Show, hat er mich umarmt und zu seinem Nachfolger gemacht. Ich konnte nicht nein sagen. Und jetzt haben wir statt 200 ca. 250.000 Anhänger, obwohl ich ihnen nichts anderes sage als dass sie mich in Ruhe lassen sollen, was sie endlich zu begreifen beginnen.“
„Was ist der Unterschied zwischen einem Guru und einem Nichtguru?“
Die Antworten kamen immer augenblicklich:
„Ein echter Guru ist eine Illusion, die von Illusionen befreit und den unvermeidlichen weil essenziellen Widerspruch des Daseins in eine neue Dimension katapultiert, wo die Evolution fortgesetzt werden kann. Leider nehmen die Leute dieses Angebot nicht an, sondern missbrauchen den Guru zur Illusionsbestätigung.“
„Hast du keine Illusionen?“
„Ich BIN Illusion, bestehe aus nichts anderem. Das ist ganz normale Göttlichkeit.“
„Gibt es Gott?“
„Diese dümmste aller Fragen hasse ich am meisten, aber was soll ich machen, es ist mein Job, das Selbstverständlichste so umständlich wie möglich erklären zu müssen. Gott ist es vollkommen egal, ob er existiert oder nicht, so wie es dir und jedem egal ist. Ändert sich irgendwas, wenn du sagst, du existierst in Wirklichkeit gar nicht? Alles ist Gott, alles ist Illusion, alles existiert und existiert zugleich nicht, und alles ist idiotisch sowie das Gegenteil davon.“
„Ist Gott alles egal?“
„Sofern ich das beurteilen kann, ist es ihm nicht egal, ob Chelsea heute gewinnen wird oder nicht, schliesslich hat er einen erheblichen Betrag auf Chelsea gesetzt. Spiele sind Gott nicht egal, sonst gäbe es nichts, nicht einmal Illusionen.
„Ist Gott nicht allmächtig und allwissend ? Bestimmt oder weiss er den Ausgang von Spielen nicht im vorhinein?“
„Er könnte es, aber das wäre ihm zu langweilig, deshalb ist er Mensch geworden. Als Mensch hat er die Illusion, nicht allmächtig zu sein und ist es eo ipso nicht, denn etwas Machtvolleres als Illusionen gibt es nicht.“
„Wodurch unterscheidet sich Illusion von Nichtillusion?“
„Es ist wie bei Gott und Mensch, wie bei Existenz und Nichtexistenz, wie bei Leben und Tod, wie bei allen Gegenteilen, letztlich fallen sie in eins zusammen. Das war auch, kurz gesagt, die Erlösungs-Botschaft von eurem Jesus. Der Gottes-Sohn ist Menschen-Sohn. Gott ist Mensch. Tod und Auferstehung sind daher ebenfalls eins und natürlich auch Illusion und Nicht-Illusion.“
„Das klingt wie Nonsense.“
„Nonsense ist die höchste Annäherungsstufe an die Wahrheit, weil die Wahrheit gleichzeitig ihr Gegenteil ist und Nonsense ebenfalls. Ihr Deutschen glaubt, ihr habt die Dialektik erfunden, deshalb versteht ihr sie nicht.“
„Ich bin Öesterreicher, nicht Deutscher.“
„Aber die Öesterreicher reden deutsch. Ihr seid also Deutsche und Nicht-Deutsche zugleich.“
„Und diese, äh, Dialektik verkauft sich so gut, dass Du Dir ein so luxuriöses Leben leisten kannst?“
„Es ist nicht die Philosophie, die sich verkauft, es ist mein Ich, das sich verkauft. Jeder erfolgreiche Vertreter weiss, dass seine Ware im Grunde völlig nebensächlich ist. Was immer verkauft wird, es ist man selbst, die So-bin-ich-Show.“
„Du magst Geld?“
„Ja. Ich mag alles. Das nennt man universelle Liebe. Und alles hat seinen Preis. Viel Geld bedeutet zum Beispiel, dass man ununterbrochen arbeiten muss. Meine Arbeit ist Guru-Sein. Ich kann nie etwas anderes tun, ich habe keinen Augenblick Privatleben, und glaub mir, das geht mir unendlich auf die Nerven. Es ist sozusagen der idiotischste Job den es gibt, und jeder weiss, dass schon ein normaler Job im Grunde unerträglich ist. Die einzige Rettung ist das Gegenteils-Prinzip Gottes und des Universums. Man könnte es auch bedingungslose Liebe nennen.
„Ist die ebenfalls gleichzeitig ihr Gegenteil?“
„Klar. Leider habt ihr das im Westen als Anhänger eures Gurus Jesus nie begriffen. Der Junge hat verschleierten Selbstmord begangen, aber der war zu erfolgreich, um Erfolglosigkeit zu beweisen. Guru-Sein ist das Non-Plus-Ultra der Unerträglichkeit, deshalb ist es ein Synomym für Gott-Sein. Der Selbstmord Gottes heisst Mensch.“
„Selbstmord ist aber für dich keine Option, oder?“
„Mein Guruji war nicht für Selbstmord, zu grob, hat er gesagt. Also spiele ich lieber Mensch und Fussballfan. Deutlicher kann ich nicht beweisen, dass ich kein Guru bin.
Mehr kann ich nach dem Jesus-Flop für die Menschheit nicht tun.
Andererseits, was hätte Jesus sonst tun sollen, wenn die Leute einfach nicht verstehen wollen, dass sie selbst Gott und Mensch zugleich sind, wie er selbst. Worte waren und sind sinnlos. Er hat also die die dümmste Dummheit begangen, die ihm eingefallen ist und sich hinrichten lassen, weil auf Gott-Sein die Todestrafe stand und steht, Du kennst doch Nietzsche..
„Und Du hast mich empfangen, um mir auf diese subtilere Art zu zeigen, dass Du ein Pseudo-Guru bist?“
„Genau, das ist meine Mission. Und wenn Du mich jetzt fragst, was für einen Sinn das hat, verliere ich die Geduld.“
„Meditation soll zur Unerschütterlichkeit führen, was hältst du davon?“
„Wenn Ruhe gegeben wird, noch dazu von allen gemeinsam, ist das optimal. Was wir hier gerade tun, ist die zweitbeste oder sogar drittbeste Möglichkeit, wenn wir Fussball berücksichtigen. Meditation: ein volles Ja.“
„Auf die Gefahr hin, dass Du mich rausschmeisst: das mit deinem Fussball ist genuin?“
„Du zwingst mich schon eine ganze Weile zu Wiederholungen, und das ist reine Zeitverschwendung. Genuinität kann ohne ihr Gegenteil nicht wahr sein, so wie Liebe, Gott und alles. Aber ich sage Dir, wenn es ein wahres Geschenk Gottes an die Menschheit gibt, dann ist es Fussball. Bei Fussball vergesse ich die gesamte Idiotie des Universums, und die Premier League bietet den besten Fussball dieses Universums, und Chelsea wiederum ist die Meister-Mannschaft dieser Liga, es sei denn Manchester United schafft es doch noch, das grösste Unrecht aller Zeiten anzurichten, was mich ziemlich viel Geld kosten würde.“
„Du hast tatsächlich auf den Meistertitel von Chelsea gewettet?“
„Sag nicht, dass DU auf MANU hältst!“
„MANU ist der Underdog, hat nur noch Schulden und keinen Ronaldo mehr, ich glaube, die Mannschaft bietet unter diesen Bedingungen erstaunlichen Fussball.“
„Weißt Du was, ich glaube, es ist wirklich besser, Du machst Dich langsam auf den Rückweg, es wird hier rasch dunkel. Ich muss vor dem Spiel noch die Emails und mein Facebook checken. Wir haben das Wesentliche mehrmals auf den Punkt gebracht, mehr kann ich nicht für dich tun.
Nur der grösste und oft auch schmerzlichste Unsinn führt zu uns selbst. Ich weiss, du würdest gern noch mehr über universelle Liebe und das Ganze reden, aber das ist alles nur Eitelkeit. Gott weiss, warum er vergessen hat, dass er Gott ist. Das Heil heisst Gottlosigkeit, und das ist auch der Heilsplan. Aber das ganze Thema ist kontraproduktiv. Vergiss alles, und sei alles. Das ist wahre Spiritualität, nicht „Erleuchtung“.
Schreib am besten alles genauso, wie es sich hier abgespielt hat, das wird dir nützen, und mir auch, aber erwähne nicht meinen Namen und meinen Aufenthaltsort. Ciao.“
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@Wolf Rosar – Mit freundlicher Genehmigung des Autors

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