Es ist warm

Über den ersten Satz
Andrea Maria Dusl für die 2009er-Weihnachtsausgabe der Salzburger Nachrichten.
Der erste Satz ist immer der schwierigste. So könnte ich anfangen. Aber so fängt man nicht an. Man fängt an wie Günter Grass. Man schreibt ein Buch über die Geschichte der Welt, führt einen sprechenden Fisch ein, nennt ihn Butt und dann beginnt man den Ziegel mit dem Satz der Sätze: Ilsebill salzte nach. So macht man sich bei den Romananfängeanalysten beliebt. Überhaupt sollte man dem animalischen sich verpflichten. Auch zweite Plätze im Romangutanfangen lassen sich mit Geschichten über sprechende Tiere gewinnen. Franz Kafka gelang dies mit dem Einstieg in seine Erzählung “Die Verwandlung”: “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ So macht man das. So fängt man an. So wie Grass. So wie Kafka.
Was mache ich? Lerne ich bei den Meistern? Lasse ich mich von der Aussicht auf Spitzenplätze in Romananfängewettbewerben verführen? Nein. Mein Roman “Boboboville” beginnt mit dem kurzen Befund: “Es ist kalt.” Kein schöner Satz. Kein wärmender. Kein einladender. Aber ein erster. Der erste Satz des Romans. In einem zwiefachen Sinn. Es ist der erste, den ich tatsächlich für diesen Textkörper schrieb, der allererste, der Geschichten erster Gedanke, und es ist auch der erste, den man zu lesen bekommt. Darf man das? Darf man schreiben “Es ist kalt”? Sollte man nicht schreiben: “Ilsebill salzte nach”? So begönne man Romane und so begann Grass den Butt. Und wenn einem das nicht gelänge, weil es ein Titan schon davor getan hätte, dann müsste man nachdenken und sinnen und vielleicht eine Asymptote zu Papier bringen:
“Ilsebill salzte nach, so stand es in dem Buch vom Butt, dem Grassziegel, dem Satzanfangemeisterbuch, und ebendieses lag vor mir, leuchtete mich an und mahnte und liess mich den Ilsebillsatz schreiben, als meinen eigenen Romananfang ausgeben, raffiniert durch Sätze taumeln und atemlos nach eigenem ringen, nach kahlem, kurzem, nach einem Satz wie dem: Es ist kalt.”
So ginge das. So liesse sich die Klippe umschiffen. Ich gestehe, dass ich daran dachte, Ilsebill nachsalzen zu lassen. Aber dann war ich streng zu mir, einsame Waldviertler Scheunenwände, fröstelndschroffe Tirolerberge und das schüttere Grau der Wiener Zinshausschluchten flogen an mir vorbei und noch bevor mir Worte durch den Kopf gingen, stand der Satz da: Es ist kalt.
Dabei war es gar nicht kalt, es war Sommer, es war: kühl. Ein Tiefdruckgebiet peitschte durch die Stadt, kroch unter die wärmenden Luftpolster, die sich in den Wohnungen versteckt hatten. Fritzl, der Tresorkinderbesitzer war das Thema der Tage, und das Feuilleton stapfte durch Charlotte Roches Feuchtgebiete. Für die Kälte des Sommers hätte ich andere Worte finden können, “Der Sommer war kühl”, oder “Sommers Kälte griff nach mir.” Aber ich beschrieb die Kälte der Seele. Ich dachte an den Namensgeber des Platzes, an dem ich wohnte, Hugo Wiener, ich erinnerte mich an seine Emigration nach Caracas und dass er, heimgekehrt mit Cissy Craner, seine Wiener Wohnung jahrein jahraus, ungeachtet jeglicher Jahreszeit, auf tropische Wärme hochgeheizt hatte. Daran dachte ich, als ich beim Fenster hinaussah auf die Hugo-Wiener-Platz-Platanen und der Frost der Geschichte in mich hineinkroch. Deswegen war mir kalt. Und deswegen schrieb ich den Satz. Es ist kalt.

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