Interview ::: Wo ist die Wahrheit im Roman? ::: Andrea Maria Dusl und Gustav Ernst

Zwischen Fakten und Fiktion. Wo ist die Wahrheit im Roman?
Was ist wahr bei einem Roman und was ist Erfindung? Ist ein Roman immer nur Fiktion oder gibt es so etwas wie Wahrheit im Roman und wenn ja, wie sieht sie aus? Darüber geben Andrea Maria Dusl und Gustav Ernst Auskunft und auch über ihre neuen Romane. Von Tobias Hierl, Chefredakteur Buchkultur

Buchkultur: Als ich „Boboville“ gelesen habe, war ich mir nicht sicher, ob das ein Roman ist. Es kommt eine Andrea Maria vor, später dann eine Dusl. Ich war mir nicht sicher, schreibt sie jetzt über sich. Sind das Sachen, die ihr passiert sind, oder ist das fiktiv?
Andrea Maria Dusl: Ich schreibe, seitdem ich weiß, in welche Richtung die Buchstaben gehen und das Erste was ich schreiben musste, was eine zusammenhängende Geschichte war, war ‚Meine Schultasche erzählt’ und die Schultasche hat genau die gleichen Dinge erlebt wie ich. Insofern habe ich nie die Kulturtechnik erlernt Fiktion von Realität zu unterscheiden und ich bin auch nie in ein germanistisches Seminar gegangen, um diesen Unterschied zu lernen. Ich bin völlig autistisch, was die Technik des Romans betrifft. Ich kann die Welt nur aus mir heraus sehen und beschreiben. Was ich nicht erlebt habe, existiert nicht. Es klingt hart, aber…


…ich habe versucht, mir Dinge auszudenken. Das macht jeder Mensch und man nennt das Lüge. Selbst die Lüge ist Teil eines Erlebniskatalogs, das heißt eigentlich ist das Gespräch schon zu Ende, denn ich behaupte, es gibt keine Fiktion. Es gibt nur das Ich und die Begegnung des Ichs mit anderen Entitäten. Sogar das Hineinschlüpfen in andere Charaktere ist nur ein Rollenspiel. Ich schreibe Drehbücher, Essays, ich schrieb nun einen Roman und mir ist es nicht gelungen, aus mir heraus zu treten. Es ist mühsam, eine vom Ich losgelöste Person zu erfinden.
Gustav Ernst: Ich möchte das Gegenteil behaupten und merkwürdigerweise stimmt das auch. Es gibt nur Fiktion. Die Fiktion wird durch die Wurstmaschine des eigenen Ichs, durch das Erleben durchgedreht, solange, bis das Material das ist, was ich sagen will, zeigen will.
Dusl: Das widerspricht mir gar nicht!
Ernst: Meine ich ja. Das einzig reale ist der Autor, die Autorin. Das, was im Buch steht, ist alles Fiktion. Selbst wenn ein Name dabei steht und ich sage, das ist der und der, ist es eine Fiktion. Das ist vielleicht eine schärfere Behauptung, eigentlich ein ohnmächtiges Beteuern. Aber die Sicht des Autors zeigt sich darin, wie etwas beschrieben wird. Er erzählt die Wirklichkeit als Geschichte. Ich finde die Wirklichkeit ist das Material für das, was ich zu erleben glaube, zu sehen und zu denken glaube und insofern das Material für die Fiktion. Mit der schnöden Absicht des Autors wird es durch die Mangel gedreht, um etwas ganz Bestimmtes zu sagen, wie ich die Welt sehe. Ich denke an den berühmten Spruch von Syd Field „Fuck Reality“. Das gilt nicht nur für das Drehbuchschreiben: Dir gehört die Wirklichkeit.
Buchkultur: Bleiben wir bei einem konkreten Fall. Sind die beiden Autoren Gerry oder Luc, in Ihrem Roman „Helden der Kunst, Helden der Liebe“ zwei Facetten ihrer Person? Wie ist es mit den Personen der beschriebenen literarischen Gesellschaften in den Kaffeehäusern, haben Sie da alles aufgenommen, was in einem literarischen Leben alles passieren kann?
Ernst: Ein Autor ist prinzipiell viele fiktive Personen. Auch wenn er über andere schreibt, ist das oft noch ein Teil von ihm selbst. Es ist die Frage wie man damit umgeht, aber in diesem Buch, in dem es um Autoren geht, sind es fiktive Personen. Man neigt dabei sehr dazu es als bare Münze zu nehmen, wogegen ich etwas hätte, deshalb kommen auch keine realen Namen vor. Das Reale unter Anführungszeichen ist die Struktur, die bestimmte Haltung von Autoren. Die kenne ich natürlich auch. Ich wollte bestimmte Situationen bauen, wo die tatsächlichen Träger in der Wirklichkeit egal sind. Es geht um Strukturen, um Situationen, wo sie stecken als Autoren, die mir auch nicht unbekannt sind, die ich schon erlebt und die ich auch bei anderen wahrgenommen habe. Alles, was mich betreffen kann und manchmal auch schon betroffen hat, wollte ich hier aufteilen in einer Fülle von Autoren.
Buchkultur: Könnte also ein Autor, eine Autorin nach der Lektüre jetzt sagen, der Gustav Ernst hat jetzt über mich geschrieben?
Ernst: Das wäre wunderbar, dann habe ich die Situation gut getroffen. Aber er oder sie wird wahrscheinlich nicht sagen, das bin ich, sondern in der Situation war ich auch schon mal. Die Struktur kenne ich.
Buchkultur: Bei „Boboville“ gibt es schon Figuren, die nicht jeder sein könnte, mit anderen Worten, die sich an konkreten Personen festmachen lassen?
Dusl: Ich habe in einer Art von Schleusenöffnung mein Geschichtenstaubecken abgelassen. Da sind sehr viele Geschichten herausgeflossen, zwischendurch ist das Leben weitergegangen und hat neue Geschichten angestrandet. Währenddem hat das Telefon geläutet oder das E-Mail gescheppert und hat wieder dritte und vierte Wirklichkeiten herangespült und in dieser Geschichte von verschiedenen Auseinandersetzungen mit der eigenen Wahrnehmung hat sich dieses Buch mehr oder weniger durch einen körperlichen Kraftakt produziert. Es ist chronologisch geschrieben. Ich habe mit dem ersten Satz begonnen und mit dem letzten aufgehört und keine absichtlichen Strukturen eingefügt. Das mache ich in den anderen Arbeiten, wie den Drehbüchern, ununterbrochen und die Struktur dominiert manchmal über den Inhalt und ich wollte reinen Inhalt, die reine Kraft dessen wie man zum Reden beginnt und nicht mehr aufhört und sich selbst kontrolliert, ob es noch immer spannend ist.
Ernst: Haben Sie eine Auswahl der Geschichten getroffen?
Dusl: Ich erzähle eine 17-stündige Geschichte.
Ernst: Das war Ihre Absicht?
Dusl: Da musste ich keinen Plan machen. Wichtig war, was fließt heraus, welche Stöpseln sind offen.
Ernst: Meine Textteile sind auch Geschichten, die ich mir im Lauf der Jahre notiert habe. Doch was mich interessierte war meine Absicht, nämlich eine sehr charakteristische Situation und Stimmung für bestimmte Autoren zu finden. Da konnte ich nicht alle Geschichten verwenden. Es war wichtig, ganz charakteristische Haltungen für bestimmte Autoren und Gruppen und literarische Einstellungen sowie Antworten auf Fragen zu finden.
Dusl: Bei mir war es genauso. Ich beschreibe diese Stadt Boboville und da stellt sich die Frage, wer ist da drin und wer passt da rein. Und nicht alle Geschichten passen. Nicht alle mit denen ich gut bin, mit denen ich viel erlebt habe, sind mir eingefallen und dann sind mir wieder Leute eingefallen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe und dann wiederum entwickeln Leute, die ich gar nicht einmal gerne habe eine dominante Rolle. Die Phänomen sind ziemlich verwandt.
Buchkultur: Wenn jetzt also eine Geschichte entwickelt wurde, dann haben sie bestimmte Sachen ausgewählt und manche nicht. Es war ein Konzept da. Die Wirklichkeit wurde einer eigenen Wahrheit untergeordnet. Oder konkret: Es kommt eine Figur Thomas Glavinic vor, eine Figur Klaus Nüchtern oder eine Figur Thomas Maurer, aber keine Figur Gustav Ernst.
Dusl: Tatsächlich existierende Menschen werden zu Romanfiguren und es können auch fünf Leute in eine Romanfigur hinein hüpfen. Diese Vorgänge passieren einfach. Dazu ein Beispiel: Ich habe für das Drehbuch zu Channel 8 eine ungezielte Recherche in St. Petersburg gemacht. Dafür geht man überall hin, wo man möchte, hat keinen Plan und saugt einfach auf, was in zehn Tagen aufzusaugen ist. Ich habe jeden Tag ungefähr 800 Fotos gemacht und elektronisch gespeichert, so als Archiv der Erlebnisse für das Schreiben, um eine Bildnotiz zu haben. Wenn mir etwas eingefallen ist, habe ich dann nach dem jeweiligen Bild gesucht und musste feststellen, es gibt keine Fantasie. Die Bilder, von denen ich meine, dass ich sie mir ausgedacht habe, waren exakt in einem Bild versammelt. Die ganze Situation war in einem Bild gespeichert. Das war auf eine magische Art erhellend und bestürzend. Was ich mir ausdenke, ist nur das Abrufen von genauest abgespeicherter Realität und was in der Verarbeitung dazu kommt, ist das Mischen von anderen Erlebnissen und Realitäten. Diese Arbeit moduliert das Material. Ohne Realität gibt es kein Material.
Buchkultur: Von der Realität rücken Sie nicht ab.
Dusl: Dann gibt es ein anderes Phänomen, wenn man versucht die Wirklichkeit abzubilden, misslingt das stets, und wenn man jemanden anderen zurate zieht und der oder die das liest, erhält man die Resonanz, das wurde nicht gesagt und jenes anders. Du hast das völlig falsch gesehen. Die Wirklichkeit besteht ja auch aus einem Fächer von Wirklichkeiten. Jeder sieht eine Situation völlig anders.
Ernst: Eine gute Übung für junge Autoren ist, ihnen zusagen, beschreibe diese Tür. Jeder wird eine andere Tür beschreiben.
Buchkultur: Wenn es also verschiedene Realitäten und Wirklichkeiten gibt und alles im Fluss ist, warum wird dann gegen verschiedene Bücher gerichtlich vorgegangen, da sich Menschen durch sie brüskiert und falsch dargestellt fühlten. Was ist dann damit?
Ernst: Da geht es darum, dass jemand etwas über mich gesagt hat und das passt mir nicht. Wenn man jemand in einem Artikel beleidigt, dann wird er geklagt. Da gilt die Tatsache, dass jemand über einen anderen etwas Beleidigendes sagt. Da geht es nicht um Literatur. Völlig unabhängig ob es stimmt oder nicht. Diese Menschen wollen sich nicht so dargestellt wissen, denn manche Leser könnten glauben, ich wäre wirklich so. Manche sagen, das ist seine Meinung, das stimmt, das steht da drin.
Buchkultur: Trotzdem ist es doch ein Unterschied zu einem Artikel. Bei einem Roman sollte doch klar sein, dass es eine Fiktion ist?
Dusl: Jemand der klagt, weil er sich in meinem Buch ungünstig wiedergegeben sieht, klagt nicht deswegen, weil er sich in einem Konflikt zwischen der eigenen Vision des Selbst und der dargestellten Vision des Selbst befindet, sondern weil er diesen Konflikt dem unbekannten Leser in die Schuhe schieben will. Und denkt, der unbekannte Leser wäre zu dieser Kulturleistung nicht fähig den Roman als Roman zu sehen und sondern denkt der Roman wäre Realität. Diese Projektion jemand anderer könne einen Roman nicht lesen, ist vielleicht ein Phänomen von Gesellschaften, die keine Aufklärung hinter sich gebracht haben.
Ernst: Der Kläger kann auch nicht unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Ich käme nicht auf die Idee zu klagen. Es kommt darauf an wie es geschrieben wurde, aber literarische Verarbeitungsmöglichkeiten gibt es viele.
Dusl: Ein verwandtes Phänomen sind Autoren, die dem Kritiker antworten. Das ist eine Art von Beweisantretungswahnsinn. Thomas Bernhard hat ja auch ununterbrochen sein eigenes Leben abgebildet.
Ernst: Ein Teilproblem ist ja das biografische Element. Die berühmte Frage nach dem Autobiografischen in einem Text lautet ja, sind das Sie, der da vorkommt. Da fragt man sich eben, wie kann ich als Autor von mir schreiben oder nicht von mir schreiben, ohne dass dauernd auf die Person des Autors assoziiert wird. Die Leute sind es überhaupt nicht gewöhnt zu unterscheiden zwischen Roman und Wirklichkeit. Wenn sie glauben wollen, dass es wirklich so ist, ist es so. Das Ich hat aber einen Vorteil, man kann spielen damit.
Buchkultur: Denken Sie, es gibt Leute, die lesen Ihr Buch auch unter dem Aspekt, kommen sie vor, kommen sie nicht vor?
Dusl: Schon, aber ich habe es nicht in der Absicht geschrieben. Ich habe mich von dem losgelöst, dann wäre es Journalismus geworden oder eine Art spekulativer Literatur. Ich habe aber jenen Leuten, die nicht anonymisiert sind im Roman, die Passagen zu lesen gegeben. Eigentümlicherweise haben die dargestellten Autoren keinen Einspruch gemacht. Je nach Grad der Eitelkeit war es ihnen sogar recht, dass es übertrieben war, wobei die Übertreibung ja auch ein Teil der Wahrnehmung ist. Nur eine Person hat sich nicht wohlgefühlt und die habe ich dann herausgeschrieben.
Ernst: Manche Figuren bestehen sogar darauf, dass sie es sind, selbst wenn kein Name dabei steht, dass sie diese Figur sind. In meinem ersten Roman, die „Einsame Klasse“, kommt eine Person vor die heißt Arschloch, ein SPÖ-Funktionär. Und es gibt wirklich einen Funktionär, der war sehr geehrt. Er hat 20 Bücher gekauft. Er hat nicht geklagt. Das gibt es auch.
Buchkultur: Alfred Döblin hat geschrieben -, dass „[…] es keine literarische Realität gibt. ‚Literarisch’ und ‚Realität’ sind Widersprüche in sich. Die Literatur tut etwas zur Realität, die unser tägliches Wortmaterial gibt, hinzu, die Daten der Realität werden benutzt, um zu zeigen, dass man zusetzt und wo man zusetzt und was man zusetzt […] Jedenfalls beginnt jede Produktion dichterischer Art mit dem Willen zur Entfernung von der Realität.“
Dusl: Dem widerspreche ich insofern, als mein Feldversuch in Petersburg zumindest bei der Person namens ich zu ganz anderen Ergebnissen geführt hat. Es gibt das Verdichten von erlebtem Material und im Gegenzug das Aufblasen, das Vergrößern, dadurch wird Wahrnehmung transformiert, aber es gibt nur die wiedergegebene Wahrnehmung.
Ernst: Mit den Formen der Literatur schaffe ich mir eine neue Realität. Ich verlassen die eine Realität und baue mir etwas Eigenes zusammen. Man verlässt sie vollständig. Selbst diese Lust mit ihr zu spielen, ist eine andere Realität. Es ist aber eine andere Frage, ob eine Sache beleidigend ist oder nicht. Ob es denunzierend wird oder nicht. Das macht letztlich die literarische Form aus.
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Interview:
Dr. Tobias Hierl
Chefredaktion Buchkultur
www.buchkultur.net

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