Verstossen

Liebe Frau Andrea
aktuell wird darüber diskutiert, ob Akten verloren gehen dürfen, oder ob Akt gewordenes in das ewige Dokumentenleben eingetreten ist. Woher kommt die Redensart, ein Akt sei „in Verstoß geraten“, wenn er -nach herrschender Lehrmeinung zeitweilig – nicht aufzufinden ist? Hat das etwas mit den sprichwörtlichen Aktenstößen zu tun, sodaß ein Beamter einen in den falschen Stoß geratenen Akt „verstossen“ hat?
Mit freundlichen Grüßen,
Martin Lischka, Alsergrund
Lieber Herr Martin,
die österreichische Beamtensprache erlaubt einen direkten Blick auf die habsburgische Beamtenseele. Unter allen sozialdemokratischen, christlichsozialen, grünen oder flachwurzelnden Schichten pocht hier ein von byzantinischer Doppeldeutigkeit durchstömtes Kanzlistenherz. Wie Sie richtig bemerken, sind in Verstoß geratene Akten sowohl in den falschen Stoß geraten als auch der psychokinetischen Befindlichkeit des Verstossenwordenseins begegnet. Was der österreichische Beamte mit Stoß meint, heisst auf Deutsch eigentlich Stapel. Und der wurde in österreichischen Schreibstuben zum Stoß, weil er nicht vom gleichnamigen Schiebeschlag kommt, sondern als Austriazismus des lateinischen Abstraktums “studium” gilt, das den Eifer, das Begehren bezeichnet. In Verstoß geratenes befindet sich also im studierenden Begehr eines anderen Eiferers. Weil zu jedem Schriftstück stets Duplikate, Triplikate und Multiplikate angefertigt werden, geht in Ministerien, Ämtern und Sekretariaten aber nie etwas wirklich verloren, sondern maximal in Verstoß.
www.comandantina.com dusl@falter.at
Für meine Kolumne ‚Fragen Sie Frau Andrea‘ in Falter 01-02/2007

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