Baum mitten in der Welt

Wenn Oberösterreich ruft, setzen sich Klaus Nüchtern und ich am Westbahnhof in den Speisewagen und fahren in das Land zwischen Inn und Enns. Im Gepäck haben wir die Taschenbücher, die wir geschrieben haben. Bücher mit sehr österreichischen Geschichten drin. Sie handeln von Erdäpfelgerichten und Bundeskanzlern, von Verwirrung und Ungemach, vom Heldenplatz und vom Böhmischen Prater, von Bauchfilz und Heisse-Luft-Maschinen.

Mair-2.jpgNach Oberösterreich fahren wir deswegen, weil Oberösterreich Nüchternsche und Duslsche Geschichten mag. Von unserer Haus-Postille Falter entsandt, fahren wir also in die Heide-Metropole Wels, ins saftige Lambach, in die Zweitürmestadt Vöcklabruck, ins halbmondäne Bad Schallabach, ins schlafende Kremsmünster.

Die Oberösterreicher mögen unsere Geschichten, weil sie für die Nestbeschmutzung, wie die Österreicher die Österreichkritik nennen, sehr aufgeschlossen sind. Thomas Bernhard war Oberösterreicher. Ausserdem: ein Land, das einen Ort mit dem offiziellen Toponym Sankt Johann konsequent Seigahans nennt, kann sprachanarchistisch gesehen kein schlechtes Land sein.

Wenn also Nüchtern und ich im sprachludernden Oberösterreich lesen und uns über die Unzulänglichkeiten des Landes hermachen, dann tritt sowas wie Versöhnung ein. Oberösterreicher können über Wolfgang Schüssel genauso gut lachen wie über Viktor Klima, über Wiener Bobos so gut wie über provinzielle Volksdeppen. Über Oberösterreich lachen sie sowieso.
Nach unseren Oberösterreichlesungen nächtigen Klaus Nüchtern und ich im zentralen Gasthof. Nirgendwo allerdings geht das zentraler und gasthöflicher als in Kremsmünster.

Das dortige Plaza, der Landgasthof Mair liegt auf einem sanftgerundeten Hügel, der wie ein Grammelknödel aus der milde gekräuselten Oberösterreichsuppe ragt. Und wie ein Schnittlauchfutzel thront auf der Kruppe des Grammelknödelrückens, der den mundanen Namen Gustermairberg trägt, der „Baum mitten in der Welt“.

Mair-1.jpgDer Baum, Nachfahr einer blitzgefällten Linde, die hier seit Urzeiten stand, ist der Mittelpunkt Österreichs. Der Baum mitten in der Welt heisst „Baum mitten in der Welt“, weil sein Standort 1823 zu einem Koordinatenursprung der österreichischen Katastervermessung wurde. Neben dem Baum steht eine Ausichtswarte und der erwähnte Landgasthof .

Dem stecken die Nullkoordinaten von Schnitzelland in der Schwelle.
Hier am „Bam“, wie die Kremsmünsterer die Örtlichkeit nennen, verbrachten mein Lesefreund Nüchtern und ich eine feuchtnebelige Novembernacht. Hier am Gipfel des Grammelknödels, gibt es kleine Zimmer, in denen die Zeit 1971 stehengeblieben ist. Eine Dusche, ein Heizkörper, ein Bett, ein Kruzifix, ein Stuhl, ein Aschenbecher, eine Steckdose, ein Fenster. Kein Hoteltelefon, keine Minibar, kein kabelkanalisierter Fernseher. Nur das Surren des Stallgenerators hinter den Nebelschwaden.

Im Mittelpunkt ist Österreich bescheiden und still.


Für das Ösi-Blog in der ZEIT.

6 Gedanken zu „Baum mitten in der Welt“

  1. Im Mittelpunkt ist Österreich bescheiden und still.
    Wenn da nicht dieser lästige Stallgenerator wär’ )
    Markus Pirchner | 25.11.2006 15:25

  2. Schön geschrieben, Frau Dusl.
    Die Kremsmünsterer Gemeindenachrichten aus dem Mittelpunkt Österreichs sind also nicht nur “bescheiden und still”, sondern “g´scheid und weltoffen”, liest wer will, dort nachgedruckt, jedermann die Neue Züricher. “Nachdem der in Bern geborene Schriftsteller und Essayist
    Christoph Braendle im Frühjahr dieses Jahres von seinen oberösterreichischen Schwiegereltern vom „Baum mitten in der Welt” gehört hattte, ging ihm dieser Name nicht mehr aus dem Kopf. Er machte bald darauf einen Ausflug nach Kremsmünster, weil er der Sache nachgehen wollte, warum das Gasthaus diesen Namen bekommen hat und worin er selbst, und worin eigentlich jeder von uns den Mittelpunkt seines Lebens und seines Handelns findet. Die „Neue Züricher Zeitung” hat nun in ihrer internationalen Ausgabe vom 27./28. Juli 2002 auf drei großformatigen Seiten sein neuestes Essay mit dem Titel „Aus der Mitte der Welt” veröffentlicht. Wir danken dem Autor, dass wir einige Ausschnitte aus dieser Zeitung in den Gemeindenachrichten abdrucken dürfen.”
    Bäume mitten in der Welt haben es schwer. Siehe: “Photo of the week | A Cornell student protests razing Redbud Woods to make a parking lot. Photo by Kevin Lowe.”, aus der aktuellen Ausgabe von “The Nation”: () – Ach, selbst kleine Bilder lassen sich hier leider nicht einfügen. – Also bitte selbst zur “Nation” wechseln.
    Grüße,
    Christoph Leusch
    Christoph Leusch | 28.11.2006 17:49

  3. Göteborg Schweden 8/12 2006
    Beim “Suchwort” Grammelknödel kam ich auf den romantischen Text von Maria Dusl. Als Auslandsösterreicher (seit 1961 in Schweden) begann ein leichtes Heimweh und leichte Traurigkeit mich zu durchströmen. Die Traurigkeit, weil ich anscheinen in den letzten 45 Jahren nicht viel verpasst habe.
    Ich Küsse Ihre Hand Frau Dusl.
    Erich Turtl Göteborg
    07.12.2006 17:22

  4. Bäste Herr Erich,
    Du är förmodligen överraskad, att jag svarar på svenska. Jag talar nämligen sedan 1961 även svenska. Hurså? Hett enkelt därför att min Mamma är Svenska och jag växte upp tvåspråkig. Hjärtligt tack för Dina handkyssar. Jag sänder mina bästa hälsningar till Dig och Göteborg. Men var vänlig och skriv på tyska, så att de österrikiska kollegerna inte tappar tråden . Din hemlängtan ska inte vara så smärtsam för Dig för Österrike längtar efter bättre tider.
    Hjärtliga hälsningar från Knillehult i Oststeiermark!
    Andrea Maria Dusl
    11.12.2006 23:32

  5. mir ist eben zu Ohren gekommen, dass das Wirtshaus zugesperrt hat. Schade. Die Essigwurst beim Baum mitten in der Welt war im Sommer immer ein besonderer Genuss. Und die grantige Wirtin ein Unikat.
    ingrid | 27.02.2007 | 15:32

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