Ziehen wir Bilanz

Erschienen im „Falter“ Nr. 35/04 vom 25.08.2004 Seite: 51.

Liebe Frau Andrea,

in Sommerschlussverkaufszeiten ist immer wieder davon zu lesen, dass etwas „bis zu minus fünfzig Prozent billiger“ geworden sei. Soll durch die doppelte Verneinung angedeutet werden, dass die Kundschaft zum Dank dafür, dass sie am Ende des Sommers unattraktive Ladenhüter ersteht, gar noch den eineinhalbfachen Preis zu bezahlen genötigt wird? Ähnlich großes Kopfzerbrechen bereitet mir der Umstand, dass ich kürzlich in einer großen heimischen Tageszeitung lesen musste, dass ein Betrieb eine „zufriedene Bilanz“ gezogen habe. Wie muss ich mir denn eine Bilanz vorstellen? Liegt sie an einem fernen Palmenstrand in der Hängematte und lässt sich longdrinkschlürfend von zwei (möglicherweise unzufriedenen) Bilanzen mit Palmenwedeln befächern?

Liebe Grüße,
David Wagner, 4020 Linz

Lieber David,

„die Botschaft muss einfach sein“, heißt das Credo der Verkäufer. Bei der Verknappung der Botschaft wird der Sinn gemeinhin stark deformiert. Statt „zufrieden stellender“ Bilanzen werden also „zufriedene“ gezogen, obschon die Idee, „eine Bilanz zu ziehen“, vertrottelt ist, denn was gezogen werden kann, sind Schlussstriche. Und die auch nur mit Schreibgeräten. Das Wort „bilancia“ kommt aus dem Italienischen und bezeichnet die frühkapitalistische Balkenwaage. Diese zu „ziehen“ mag nur jenen sorglos gelingen, die auch „Negativwachstum“, „Gewinnwarnung“ oder „Nulldefizit“ einen Sinn zuordnen.

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