Wenn die Fabrikssirene büht

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 50/2024 vom 11. Dezember 2024

Liebe Frau Andrea,
ich lebe seit meiner Geburt in Schwechat, das von zahlreichen Industriebetrieben geprägt ist. In einigen von diesen gab und gibt es akustische Anlagen, die zu diversen Anlässen wie Schichtwechsel, und Feueralarmen ein sehr lautes Heulen von sich geben. Solche Sirenenalarme finden natürlich auch im Zivilschutz rege Verwendung, beispielsweise jeden Samstag, kurz nach High Noon. Meine Großeltern, aber auch meine Mutter bezeichneten diesen Sirenenlärm immer mit dem Ort „bühn“, wobei das „ü“ recht lange ausgesprochen wurde. Auch ich verwende dieses Wort und sage zu meiner Frau oft „Es hot scho büht.“ Meine konkrete Frage an Sie, geschätzte Meisterin der Etymologie, betrifft also dieses offensichtliche Dialektwort „bühn“. Woher kommt es nur? Ich kann mir seine Herkunft nicht erklären.
Mit herzlichen Grüßen
Nikolaus Franz, Schwechat, per Email

Lieber Nikolaus,

das von ihnen gesuchte Wort ist sehr alt und gehört zu den Schallwörtern und Tierlauten. Im Englischen und Niederländischen hat es sich noch im sehr ähnlich klingenden Wort „bell“ für die Glocke erhalten. „Bühn“ schreibt sich wörterbuchkonform „büllen“, wie sich in Kenntnis des Wienerischen (und Schwechaterischen) leicht verstehen lässt, das ja aus füllen „fühn“ macht und aus brüllen „brühn“. Unser büllen, bühn kommt von althochdeutsch bullōn, mittelhochdeutsch bullen, büllen. Das Altnordische kannte baula, bole, bylia und belia für das (meist tierische) Brüllen. In den oberdeutschen Dialekten Süddeutschlands und Österreichs bezeichnet(e) büllen, püllen das Blöken der Kälber und das Brüllen der Kühe, Ochsen und Stiere, in Österreich kann es aber auch das laute weinen und heulen bedeuten.

Mit dem Aufkommen industriellen Lärms hat sich das Wort von Stall und Weide in die Fabrik begeben, wo büllen, bühn, büün dass laute Heulen, Dröhnen, wie in ihrem Falle der Fabriks-Pfeifen und Werks-Sirenen bedeutet.

Nicht verwandt mit unserem Wort ist die medikamentöse Darreichungsform „Pille“, im Wienerischen ebenfalls „Pühn“, „Bühn“ ausgesprochen, aber meist lautlos eingenommen.


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