Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 35/2022 zum 31. August 2022
Liebe Frau Andrea,
meine Freundin ist mit einem Mann mit Hörgerät verheiratet. Wenn er dieses nicht trägt und viele Dinge, die um ihn herum vor sich gehen, nicht mitkriegt, nennt sie ihn liebevoll „mei derrische Kapön“. Wir haben uns aber gefragt woher dieser Ausdruck kommt. Können Sie Abhilfe schaffen?
Mit freundlichen Grüßen,
Barbara Anselmi, per Email
Liebe Barbara,
gerne schaffe ich Abhilfe. Die österreichische Umgangssprache kennt den Ausdruck für Menschen mit Hörproblemen. Nach Auskunft der Sprachforscher·innen ist nicht ein Orchester von Gehörlosen, sondern eine kirchliche Kapelle gemeint, in der man betenderweise keine Erhörung findet. Ein sprichwörtlicher, heute politisch inkorrekter Satz zum Sachverhalt wäre „s is wia waun mar an Dearischn an Guadn Muagn gabad“ (es ist, als ob man einem Gehörlosen einen Guten Morgen entböte).
Woher kommen die einzelnen Bestandteile unserer Bezeichnung? Derisch, dearisch, törisch kommt vom mittelhochdeutschen tœrisch für verrückt, närrisch. Wir kennen das Wort vom Tor und dem davon abgeleiteten Eigenschaftswort töricht.
Die Kapelle ist weiter gereist. Sie bezieht ihre Nämlichkeit vom kleinen Gebäude für Gottesdienste. Die erste ihrer Art wurde in Tours zu Ehren des Heiligen Martin über dessen Grab errichtet. Sankt Martin, späterer Begründer des abendländischen Mönchtums soll in einem heiligwürdigen Akt der Barmherzigkeit einem armen, unbekleideten Mann am Stadttor von Amiens durch Teilung mit dem Schwert die Hälfte seines Offiziersmantels geschenkt haben. Solches Textil firmierte unter dem Namen cappa, Kapuzenmantel. Die verbliebene Mantelhälfte (verkleinernd capella genannt) wurde schon von den Merowingern als Reichsreliquie verehrt. Von Tours nach Aachen überführt gab sie der Pfalzkapelle ihren Namen. Der Aufbewahrungsort der Heiligen Mantelhälfte wurde schließlich synonym mit dem architektonischen Typus des kleinen, abgeschlossenen Kirchenraums. Jene Kleriker, die in Kapellen den Chordienst und die Stundengebete besorgten wurden als Capellani, Kaplane bezeichnet, Musiziernde als Kapelle. Ganz unabhängig von ihrem Hörvermögen.
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