Jemanden anglahnt lossn

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 19/2022 zum 11. Mai 2022

Liebe Frau Andrea,
kürzlich geriet ein lieber Freund von mir in einen kleinen Streit mit einer Frau. Er kam aus Deutschland und ich gab ihm den Rat, die etwas übertrieben reagierende Frau „anglahnt“ zu lassen. Er sagte „anglahnt“? Nun bemerke ich, dass ich selbst nicht weiß, was man anlehnt.
Klären Sie mich auf!
Herbert Bertlberger, Eichgraben, per Email

Lieber Herbert,

wir kennen die von Ihnen kolportierte, sehr wienerische Wendung auch aus anderer Perspektive. Wollte man den Wunsch vorbringen, von jemand in Ruhe gelassen zu werden, fielen Sätze wie: „Loss mi ausn Graud“ (lass mich aus dem Kraut, eigentlich Krot, Grod, ein altes Wort für die Belästigung), „gräu ma owe“ (kriech mir runter), „hob mi gearn“ (hab mich gern) und eben: „Loss mi auglahnt“ (lass mich angelehnt). Fast wäre man versucht, die im Wienerischen gleichlautende Bedeutung von „auglahnt“ herauszuhören, nämlich „angeleint“. Wer oder was wird und wurde angeleint? Das Vieh aus Stall und Weide, das Pferd, der Hofhund und der Vierbeiner des Jägers. Mitmenschen werden allenfalls gefesselt, nicht angeleint.

Forschen wir beim Anlehnen weiter. Was meint das Wienerische mit „anlehnen“? Die Hoftüre, das Gartentor, das Zaungatter, die Wohnungstür? Eine schon in Position gebrachte Leiter? Bretter in einer Werkstatt? Diesmal wird uns das Hochdeutschen weiterhelfen, denn hier gibt es für unseren Fall die synonymen Wendungen „links liegen lassen“ und „stehen lassen“.

Liegt für unser „auglahnt“ gar ein ganz anderer Ursprung vor? Schon Nestroy verwendet aulahna (anleinen) für verleumden. Wir kennen Ähnliches aus der Umgangssprache. Jemanden etwas anzuhängen bedeutet soviel, wie jemand fälschlicherweise eine Tat zuzuschreiben.

Zurück zum Anlehnen. Verwandt mit lana (lehnen) ist die Lehne, wie wir sie etwa aus der Sessellehne kennen. Das Wienerische verwendet(e) lana(n) als Begriff für das „untätig herumsitzen“. In der Zusammenschau aller Möglichkeiten böte sich das Zurückgeworfensein in die sitzende Untätigkeit als beste Erklärung fürs Auglahntsei (Angelehntsein) an. Auch hier kennt das Hochdeutsche ein passendes Synonym: Sitzen lassen.

comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

4 Gedanken zu „Jemanden anglahnt lossn“

  1. Liebe Frau Andrea,

    ich lese ja immer wieder mit großem Interesse Ihre Fragebeantwortungen im Falter. Diesmal war ich jedoch überrascht! Zu „Loss mi anglahnt“ dachte ich zuerst: ah, das weiß sogar ich – und ich bin seit Jahrzehnten im Land lebender „Piefke“. Aber dann kam die mir bekannte etymologische Erklärung in Ihrem Text nicht vor.

    Ich glaube mich nämlich zu erinnern, vor Jahrzehnten in der wunderbaren Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ (deren Katalog leider verloren ging und mir immer noch abgeht) einen Beitrag über die Einflüsse der Sprache des Prostituiertenmilieus auf das Wienerische gesehen zu haben, und da nahm man Bezug auf die am Haus lehnende Gewerbetätige, die einen (zahlungsschwachen?) Freier mit diesen Worten abweist.

    Kann es sein, dass mich meine Erinnerung trügt und/oder dass diese Erklärung schlicht nicht stimmt?
    Für Aufklärung wäre ich Ihnen dankbar.

    Ganz liebe Grüße,

    Jochen Rüth
    Hagenbrunn

    1. Lieber Herr Rüth,

      besten Dank für Ihren Fund. So ist das mit Etymologien, sie stimmen, sobald sie verwendet werden oder hinreichend glaubhaft gemacht wird, dass sie stimmen. Viele Volksetymologien erfahren ihre Affirmationen in Publikationen.

      Für das Kapitel „Die Galerie“ (die Wiener Unterwelt) meines Buches „Wien wirklich“ habe ich minutiös spezifische Literatur ausgewertet. „Anglahnt“ als Beispiel eines historischen Begriffs aus dem Prostitutionsmillieu wäre mir aufgefallen. Das Wienerische spricht vom „Gehen am Strich“, nicht vom „Lehnen“.

      Hier eine erläuternde Passage aus „Wien wirklich“:

      „Der Rayon, in dem sich die Hua bewegt, und der von ihrem Beschützer, dem Strizzi, kontrolliert wird, ist der „Kits“ (Kiez), der „Telach“ (von jiddisch telechen, gehen), das „Gai“ (verwandt mit dem Gau). Arbeitet die Hua am Wohnungsstrich, ist das die „Wohnungshockn“ (als „Hockn“ bezeichnet die Wiener Hure generell ihre Arbeit). Der Stundenhotelier ist der „Koberer“, die Bordellmutter die „Koberin“. Wenn die „Hua am Schdrich“ (auf den Strich) oder „am Schbagot“ (auf den Spagat) geht, geht sie in die „Hockn“. Das Auf-und-Abgehen am Strich ist das „Para- diern“ oder „Nafkenon“ (von rotwelsch nafke, Hure). Von ihrer Berufskleidung spricht die Wiener Dirne als vom „Hockngwond“, die absatzhohen Schuhe und Stiefel bezeichnen die „Hocknbock“ („Bock“, Böcke, gelten im Wienerischen als Schuhe). Neu zum Strich kommen ist „zuawochsn“ (zuwachsen) “ [Dusl, Andrea Maria: Wien wirklich, Wien 2017, pag. 57f.]

      Hier die Literatur, die ich dafür befragt habe [Auszug]:

      Althaus, Hans Peter: Chuzpe, Schmus & Tacheles/Jiddische Wortgeschichten, München, 2004

      Althaus, Hans Peter: Kleines Lexikon deutscher Wörter jiddischer Herkunft, München, 2010

      Althaus, Hans Peter: Zocker, Zoff und Zores, Jiddische Wörter im Deut- schen, München, 2002

      Ammon, Ulrich; Bickel, Hans; Ebner, Jakob: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol, Berlin, 2004 


      Burnadz, Julian Marian: Die Gaunersprache der Wiener Galerie, Lübeck, 1970


      Cisar-Lodar, Karin: Mit Charme und Schmäh’. Eine Geschichte des Wiener Taxis, Wien, 2005


      Czeike, Felix: Historisches Lexikon, Wien 1993–1995



      Ebner, Jakob: Duden, Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch des österreichischen Deutsch, Mannheim/Wien/Zürich, 2009


      Girtler, Roland: Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden, Wien, 1998


      Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, München, 1984

      Günther, Louis: Die Deutsche Gaunersprache und verwandte Geheim- und Berufssprachen, Leipzig, 1919


      Holzheimer, Gerd: Wenn alle Strick’ reißen, häng ich mich auf. Ein Österreich-Lexikon, Leipzig, 1997

      

Hornung, Maria; Swossil, Leopold: Wörterbuch der Wiener Mundart, Wien, 1998


      Jakob, Julius: Wörterbuch des Wiener Dialekts, Wien/Leipzig, 1929

      Kisch, Wilhelm, Die alten Straßen und Plätze Wiens und ihre historisch interessanten Häuser, Wien, 1883

      Klepsch, Alfred: Westjiddisches Wörterbuch auf der Basis dialektologischer Erhebungen in Mittelfranken, Tübingen, 2004

      
Mautner, Franz H. (Hg ): Johann Nestroy. Komödien. Ausgabe in sechs Bänden, Frankfurt a Main, 1979


      Moser, Hans: Wörterbuch der Südtiroler Mundarten, Innsbruck/Wien, 2015


      Moser, Hans: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Innsbruck/Wien, 2013

      Österreichisches Wörterbuch, 42 Aufl., Wien, 2012


      Pohl, Heinz-Dieter; Schwaner, Birgit: Das Buch der österreichischen Namen Ursprung, Eigenart, Bedeutung; Wien/Graz/Klagenfurt,
      2007


      Pokorny, Julius: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Tübingen, 1989


      Reichmann, Maria: Die Wiener Gaunersprache, München, 2007

      Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg/Basel/Wien, 1994


      Rosten, Leo: Jiddisch, Eine kleine Enzyklopädie, München, 2002

      
Schuster, Mauritz: Alt-Wienerisch. Ein Wörterbuch veraltender und veralteter Wiener Ausdrücke und Redensarten, Wien, 1951

      Schwendter, Rolf: Subkulturelles Wien, Wien, 2003


      Sedlaczek, Robert: Wörterbuch der Alltagssprache Österreichs, Innsbruck/Wien, 2011


      Sedlaczek, Robert: Wörterbuch des Wienerischen, Innsbruck/Wien, 2011


      Sedlaczek, Robert; Badegruber, Reinhardt: Wiener Wortgeschichten. Von Platzhirschen und Winterschwalben, Innsbruck/Wien, 2012

      Teuschl, Wolfgang: Wiener Dialektlexikon, Wien, 1990


      Train, Joseph Karl von: Wörterbuch der Gauner- und Diebessprache, Leipzig, 2011


      Wehle, Peter: Die Wiener Gaunersprache, München, 1977


      Wehle, Peter: Sprechen Sie Wienerisch?, Wien, 1980


      Weihs, Richard: Wiener Wut. Das Schimpfwörterbuch. 2222 Kraftausdrücke, Wien, 2015


      Weinstein, Miriam: Jiddisch/Eine Sprache reist um die Welt, Berlin, 2003


      Wolf, Siegmund A.: Wörterbuch des Rotwelschen/Deutsche Gaunersprache, Mannheim, 1956


      Wolflingseder, Barbara: Kollege kommt gleich/Wiener Taxigeschichten, St Pölten, 2004.

      1. Danke für die Erläuterung; dann bleibt die Herkunft dieser Redewendung doch eher etwas spekulativ und ich muss mich wohl von dieser schönen Erklärung verabschieden…
        Ich könnte mich ja nun mit Erich Kästner trösten, der im Vorwort zu „Pünktchen und Anton“ schrieb: „Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, daß die Geschichte wahr ist! Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genauso, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können.“ (Und das führt dann wohl oft zu der von Ihnen erwähnten Affirmation durch Publikationen…) Aber ich ziehe es vor, in Zukunft diese Erläuterung, wenn ich sie denn zum Besten gebe, mit den Ergebnissen Ihrer Forschung zu relativieren.
        Und „Wien wirklich“ kommt jetzt auf meine Leseliste!

        Herzlichst,
        Jochen Rüth

        1. Lieber Jochen Rüth,
          Erich Kästner kann ich mich anschließen. Dass die „Anlehnerei“ der Wiener Huana den Begriff in die Welt setzten ist ja dennoch möglich. Gilt doch auch bei meinen Quellen: „Absence of evidence is not evidence of absence“!
          Beste Grüße,
          Andrea Maria Dusl

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