Ein vielgehegter österreichischer Mythos ist jener von der Weltmeisterschaft im Vereinswesen. Jeder zweite Österreicher, so die Mär, sei Präsident in einem Verein (tatsächlich braucht es zur Gründung nur zwei Personen, von denen eine den Vorsitz ergreift). Die schiere Anzahl der Vereine, übersteige jede Vorstellung, weltweit sei Österreich uneingeholt. Jeder Blick in die Evidenzen der eigenen Mitgliedschaften scheint das zu bestätigen. Schon in der Schulzeit treten wir in Vereine und Verbände ein. Blasmusik, Trachtenpflege, Fußballspiel und ja, die Geselligkeit selbst wären ohne Mitglieder und Mitgliederinnen undenkbar. Aber das Bild trügt, Niederländer und Skandinavier sind uns im Vereinswesen weit voraus, die Deutschen sowieso.
Wesentlicher Grund für jede Vereinstätigkeit ist ebendie. Die Tätigkeit. Das Einberufen von ordentlichen und ausserordentlichen Generalversammlungen, das Sitzen in Sitzungen, das Pflegen von Mitgliederlisten, das Eintreiben von Beiträgen. Das Aufgehen im öbmännischen Dasein. Im Kassiertechnischen, im Sekretariellen, in der Statuten-Exegese. Das Sortieren von Fälligem und Allfälligem. Das Denken in vereinlichen Dimensionen. Das Transzendieren des Vereinszwecks in eine Lebensstellung. Der österreichische Verein fängt Talente auf diesen Feldern nicht nur ein, er pflegt und hegt, ja produziert sie.
Österreichs zentraler Verein ist die Republik selbst. Ist doch der Bund (so nennen ihn seine Mitglieder) ein Verein der Länder. Jeden Tag erfahren wir aufs neue, wie der Verein tickt. Neun Mitglieder, neun Uhren. Jede geht anders.
Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 23. April 2022.