Die Haarlocke der ukrainischen Helden

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 13/2022 zum 30. März 2022

Liebe Frau Andrea,
ich habe in letzter Zeit viel herumgegoogelt und bin im Zusammenhang mit der Ukraine immer wieder auf Embleme gestossen, die Männer mit langen Schnurrbärten und Haarschöpfen am kahlen Schädel zeigen. Bitte klären Sie mich auf, was da dahintersteckt.
Liebe Grüße,
Lena Kowalczyk, Neubau, per Email

Liebe Lena,

auf der Suche nach nationaler Identifikation mobilisieren konservative Ukrainer historische Mems. Ein beliebtes Motiv ist das des ukrainischen Kosaken. Neben einem imponierenen Schnurrbart ist sein auffallendes Merkmal der Haarschopf im kahlrasierten Schädel. Er heißt ukrainisch Tschub (Stirnlocke), Tschupryna (Haarschopf), seltener Oseledets (Hering). Das Wort Tschub ist etymologisch verwandt mit dem gotischen skuft und unserem Schopf. Obschon die markante Scheitelsträhne eine Konjunktur als ukrainische Mythenfrisur erlebt, verbindet das habsburgische Mitteleuropa mit dem Haarschopf unspezifiert das Sterotyp des wilden Nomadenkriegers aus dem Osten. Von Attila dem Hunnenkönig bis Yul dem Brynner.

Aus aktueller ukrainischer Perspektive verschwimmen historische und ahistorische Remineszenen an freie und bewaffnete Kosaken-Vorfahren zu einem identitätsstiftenden Bild. Das 1891 fertigestellte Gemälde des Historien-Malers Ilja Repin „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“ ist ein beliebtes Motiv für nationale Reanactments und photographische Nacherzählungen unter Soldaten und Söldnern.

In der Regel wurde die Stirnlocke des Kosaken auf die Seite gedreht, hinter dem linken Ohr getragen. Länge und Pflege bezeichneten Rang und Erfahrung. Eine im Wind flatternde Stirnlocke, so die Mär, erschrecke den Feind oft mehr als ein scharfer Säbel. Der ukrainische Dichter und Arzt Stepan Rudanskyj gibt in einem Gedicht eine weitere Erläuterung für die Funktion der Haarsträhne: „Der Kosake wird gefragt: Was ist der Grund für deinen nackten Kopf mit dem Haarschopf darauf? Und das ist der Grund: Wenn ich im Krieg sterbe, wird mich ein Engel erheben und an diesem Schopf in den Himmel tragen.“ Cut.


comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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