Coronachten

Es war der längste Tag des Jahres. Sein Beginn war schnörkellos. Zur elektronischen Signalmelodie des Donauwalzers zitterte der Sekundenzeiger der Studiouhr. Irgendwo weit draußen im Paralleluniversum Fernsehen. An diesem Tag, dem Weihnachtstag war alles anders. Da begann das österreichische Fernsehen schon in der früh. Es hieß Weihnachtsprogramm und war ganz uns Kindern gewidmet. Es ging um Freundschaft und Missverständnisse, vorgetragen von Dick und Doof, Lolek und Bolek und einem Ensemble schriller Märchenfiguren aus DDR-Produktion. Westfernsehen gab es in Wien keines. Der Tag selbst war eine Art Westfernsehen. Die Erzählung einer glücklichen Welt, in der alle Dinge ihren Ort hatten und alle Erwachsenen eine Funktion. Die fürsorglichen Eltern verwalteten Baum, Schmuck und Geschenkpapier, und bereiteten das Weihnachtsmahl zu: Fischsuppe, Vaterkarpfen und Familienforellen. Anwesende (weil noch lebende) Großeltern, Tanten und Onkel sorgten für Familienerzählungen, Kritik am Rituellen und die Erkenntnis, dass Fest und Alkohol im Bunde stehen.

Das große Unsichtbare war das Christkind, ein Geistwesen mit Transportlust, das bei Einbruch der Dunkelheit Millionen von Haushalten mit Geschenken belieferte, die alle schon im Haus waren, schlecht versteckt im Besenkammerl oder hinter der Türe gestapelt.

Irgendwann (meist zu spät) zogen sich alle feierlich an, kippten ins Sentiment und warteten auf den magischen Moment. Das Läuten des Glöckchens. Die Erkenntnis, dass der Vater dahinter steckte und nicht das Himmlische Kind, beendete die Kindheit.

Nicht aber den längsten Tag.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 24. Dezember 2021.

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