Wer war das Lercherl?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 49/2021 zum 8. Dezember 2021

Liebe Frau Andrea,
keine Ahnung wieso, aber heute stand plötzlich, wie es Hermes Phettberg einmal ausdrückte, ein Wort in meiner Hirnschale: Das Lercherl. War das nicht ein Straßenmusiker?
Bitte um Aufklärung!
Harald Hörmansleitner, Neubau, per Email

Lieber Harald,

als Lercherl bezeichnete man im alten Wien die trillernde Sängerin, die liederliche Person und das dümmliche Opfer eines Falschspielers. Neben der Volkssängerin Aloisia Pintzker und der Operrettensopranistin Betty „Wetty“ Fischer galt zuletzt ein älterer Herr mit weißem Bärtchen als Lercherl.

In schlotternder Hose, speckigem Trenchcoat und mit tiefhängendem Rucksack zog der 1911 geborene Straßensänger Emil Thun in den 70ern und 80ern durch Wien, um das Publikum mit Knöpferlharmonika und transzendierender Falsettstimme zu irritieren. Auf die Frage, warum er stets so hoch singe, meinte der durch Gehirnhautentzündung und Epilepsie Beeinträchtigte, würde er „nieder“ singen, müsste er Worte haben. Er aber singe ohne Worte. Sein Zielpublikum, so berichtet der Liedermacher und Schriftsteller Ernst Molden, seien die braven Buben gewesen, denen er Muscheln aus Grado schenkte, wenn sie ihm zuhörten. Den bösen Buben, die ihm Streiche spielten, habe er zugerufen, sie mögen „in Oasch gehn“.

Weltschmerzpapst André Heller hat Thun im 1972 realisierten Film „Wer war André Heller?“ ein Denkmal gesetzt. In grellrotem Zirkusanzug und Strohhut singt Thun das Heller-Lied „Die Kinder sind immer aus Wien“. Von Thun, irrigerweise für ein verstoßenes Mitglied des gräflichen Hauses Thun-Hohenstein gehalten, ging die Mär, er habe sein Erbteil (einige Millionen in Schilling) bar beheben wollen. Als der Bankbeamte den spitzbärtigen Sänger gefragt habe, was er denn mit der prominenten Summe zu tun gedächte, habe Thun blauäugig geantwortet: „Das ist für die vielen Kinder, ich hab’ sie so gern!“ Das Bekenntnis soll ein gerichtliches Entmündigungsverfahren nach sich gezogen haben, der Geldkoffer mit dem Erbe gar nicht erst ausgehändigt worden sein. Ob er nun Graf war oder nicht, ob steinreich oder bitterarm, ob mündig oder besachwaltet, am 18. November 1984 starb das letzte Lercherl.

comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert