Österreich ist voller Meinung. Schon Bruno Kreisky, Kenner der österreichischen Seele, begann Kanzlerstatements mit der Einleitungsfloskel „Ich bin der Meinung…“ Von der öffentlichen Meinung zur veröffentlichten ist es nur ein Zirkelschlag, er macht Österreich zu einer runden Sache. Eine runde Sache ist auch der Boulevard, in dem die öffentliche Meinung stattfindet. Leitet sich doch die Bezeichnung für die Veröffentlichungsplattformen der österreichischen Meinung vom französischen Wort Boulevard ab, womit jene breiten, von Alleebäumen gesäumten Gürtelstraßen bezeichnet werden, die rings um das Zentrum laufen. Boulevard gaukelt urbane Eleganz vor und macht vergessen, dass es seine Wörtlichkeit vom deutsch-holländischen Wort Bollwerk, bulwerc bezieht. Die dicke Mauer um die uneinnehmbare Stadt. Dort, wo man immer schon aussichtsreich herummeinte.
Öffentliche Meinung, in Zeitungsseiten gepackt läuft also in Sichtweite um das Zentrum, erreicht es aber nie, jongliert mit dem Hörensagen und den flüchtigen Wortfetzen, die radial Reisende an Informationspartikeln fallen lassen. Es liegt nahe, dass in einem Land, das im Richtungswechseln geübt ist, schon früh erkannt wurde, dass Meinung nicht nur wiedergegeben werden kann, sondern (viel einfacher und lohnender) auch erzeugt. Gilt doch die Reziprok-Erkenntnis, nach der nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht. Im ewigen Kampf zwischen Gut und Böse hat sich der österreichische Boulevard für das Böse entschieden, für die bunte Bilderexplosion, die knallende Schlagzeile und die frisierte Umfrage.
Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 6. November 2021.