Schon wieder. Der Balkan fängt in Wien an

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 44/2021 zum 3. November 2021

Liebe Frau Andrea,
irgendwo im Ausland hat es schon wieder jemand so richtig benannt. Anlässlich des Kurz-Sturzes wurde daran erinnert, dass der Balkan in Wien beginne.
Bitte um Erläuterndes,
Lydia Kralj-Pettauer, Josefstadt, per Email

Liebe Lydia,

Sie beziehen sich vermutlich auf einen Artikel in der Financial Times vom 18. Oktober. Sam Jones, Autor eines prominent plazierten Textes über Aufstieg und Fall des Sebastian Kurz zitiert darin den Chefanalysten einer Anlagerisikoberatung mit Sitz in Wien. Österreich, so dessen Befund, vermarkte sich gerne als Mini-Deutschland, sei aber in seiner Kultur und Struktur – und der Art und Weise, wie sie missbraucht würden – eher ein (mittel-)osteuropäisches oder gar ein Balkanland.

Woher kommt die Zuschreibung? Für Staatskanzler Metternich war die Sache klar. Für ihn begann der Balkan schon am Rennweg. In strenger Deutung dieses Bonmots markiert der Hochstrahlbrunnen dessen Beginn. Auf weiterer Route folgen das Heldendenkmal der Roten Armee, das Sommerpalais des Fürsten Schwarzenberg, das Untere Belvedere, das Kloster der Salesianerinnen und schließlich der Botanische Garten der Universität Wien. Das ist insgesamt zu nobel. Wird doch Metternich auch anders kolportiert. Demnach meinte dieser nicht den Rennweg, sondern die Landstraße, und dort habe für Metternich nicht Europas Südosten begonnen, sondern gleich ein ganzer Kontinent. Asien nämlich. Treffsicherer erscheinen die Einschätzungen von Winston Churchill (sie dürfen auch für Wien gelten). Der Britenpremier bezog sich auf den Balkan als geschichtlich-geographisches Kontinuum und nicht als ferne Kulisse für Polemik. Der Balkan, „Europas weicher Unterleib“, wird Churchill zitiert, produziere mehr Geschichte, als er lokal konsumieren könne.

Auf Twitter widerspricht User @BurnsieJ: In nichts sei Österreich wie der Balkan. Es gebe keine wilden Partys, keine Trauben- und Getreideschnapstradition, keine großartig-chaotische Musik, keine Esskultur, die Mittelmeer und Nahen Osten verbinde, kein Herzinfarkt auslösendes Tanzen, und kein Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Jebem ti.


comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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