Der Um-Etikettierer

Wir leben in einer Zeit galoppierenden Wertewandels. Die Schindmähre, die in dieser Metapher auf unsicherem Weg in die Ferne rast, ist schlecht genährt, aber heillos überladen. Immer wieder fällt moralisches Packgut von ihrem dünnen Rücken, zerplatzt am Boden, zerfällt, wird vom Gewittersturm der Gegenwart verblasen. Ziel hat das nasse Pferd beim Davonlaufen keines erhalten. Das Zaumzeug schleift am Boden, niemand fühlt sich zuständig. Manche lachen ob des traurigen Anblicks, schlagen die Trommel, um trügerisch den Donner der Geschichte vorzugeben. Andere haben Mitleid mit dem alten Tier: „Wertewandel“ rufen sie dem Gaul nach, „bleib stehen! Dein Name ist ‚Wandelwert‘ und der Galopp bringt dich nur um Deine Gesundheit!“ Der Klepper aber lässt sich nicht einfangen, der Zügel und der Zurufe müde stiebt er dahin. Keuchend, zitternd, Schaum vor dem Maul.

Wir erinnern uns an frühere Zeiten, nicht alle davon waren gut, aber die Begriffe waren noch nicht entlaufen. Wir sprachen von Werten, selbst wenn sie da und dort abkamen. Und es gab, zumindest in moralischer Hinsicht, Ansprüche an Funktionsträger und Verantwortliche. An Zuständige und Geschäftsführende. Es zirkulierten altertümliche Begriffe wie Ehrlichkeit. Redlichkeit. Genauigkeit. Zuverlässigkeit. Verantwortungsbewußtsein. Bescheidenheit. Güte. Empathie. Freundlichkeit. Höflichkeit. Großzügigkeit. Herzensbildung. Ja, auch: Bildung.

Die Etikettenschwindelei der letzten Jahre hat diese Begriffe aus dem Wertekanon des Guten erodiert. Alles kann jetzt alles heißen. Nichts irgendetwas.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 13. März 2021.

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