Die Kurve ist fester Bestandteil der österreichischen Wirklichkeit. Kein Saumpfad kommt ohne sie aus, von den Straßen und Pisten im Land ganz zu schweigen. Wilddurchkurvtes Österreich.
Schon das österreichische Kleinkind im Laufwagerl und auf dem Dreirad kennt das archaische Prinzip des Wendewegs: Kurven ziehen sich zu, dann öffnen sie sich wieder. Einmal gehts da hin, dann wieder dort hin. Diese frühe Prägung auf das Verschlungene, dieses Grundvertrauen in die Kultur des Biegens und Beugens hat auch die Liebe zum Kreisverkehr hervorgebracht. Kein Ortsausgang kommt ohne den kreuzungsfreien Kreisel aus. Schön ist so ein Ringelspiel! Schifahren, das österreichische Zentralvergnügen, nährt sich von der Lust am Schwung. Auch die Schussfahrer lieben die Kurve. Geradeaus geht es immer nur in den Abgrund. Zudem endet jedes österreichische Abwärtsgewedel grundsätzlich im Ziel. Der Anstieg in Gondel und Schlepplift gipfelt immer im Ausstieg. Zwischendurch, auf halber Höh‘ erfreut auch den fleißigen Wedler der zünftige Einkehrschwung.
Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn die Österreicher der Kurve aus gelebter Erfahrung und berichtetem Erkennen nur Positives abgewinnen. Die Kurve gibt Sicherheit. Die Kurve führt und leitet, wie der Messias seine Schäfchen. Erfahrung, Intuition und Gerede sagt den Österreichern: Jede Kurve hat ihren Wendepunkt. Autofahrende wissen: Dort dürfen wir wieder aufs Gas steigen.
Es darf daher nicht wundern, dass das aktuelle Kurvengeschehen auf Gesundheitstabellen, Krisengrafiken und Beliebtheitskurven grundsätzlich missverstanden wird.
Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 12. Dezember 2020.