„Er liebt mich, er liebt mich nicht“, lautet der alte Abzählreim. An den Blättern einer Blüte (meist ist es die auszupffreudige Margerite) suchen Alleinstehende zu ergründen, ob der Wunschpartner willens wäre, mit Gegenliebe zu antworten. In diesem Spiel gibt es keine Dialektik, jedem ausgerissenen Blütenblättchen folgt eines mit der gegenteiligen Antwort. Am Ende gibt es ein Ergebnis, das die Ratlosigkeit nicht löst, sondern nur transzendiert. Stimmt das Ergebnis nicht (es soll ja „liebt mich“ lauten), wird an einer unzerstörten Orakelblüte weitergearbeitet. Das Spiel wohnt nicht nur die schmerzliche, aber verdrängten Erkenntnis inne, dass der Liebesfall eben vorliegt, es wird von dieser überhaupt ausgelöst.
Geschickte Blütenzupferinnen beherrschen die Technik der unbewussten Täuschung, ihr Wahrnehmungsapparat hat den Abzählungsausgang bereits vorweggenommen und steuert das günstige Antwortziel „liebt mich“ an. Aus der Kulturgeschichte des Blütenrupfens ist aber kein Fall bekannt, wo glücklich Unverliebte sicher gehen wollten, vom Unwunschpartner nicht geliebt zu werden, immer handelt es sich um unglücklich Verliebte, die sich der Täuschung des glücklichen Verliebtseins hingeben.
In mehrfacher Weise kann die Liebt-mich-liebt-mich-nicht-Margerite als Metaphernobjekt für den Stand der Koalitionshoffnungen mit dem Sehnsuchtsprinzen Sebastian Kurz dienen. Die Grünen zupfen langsam, Blatt für Blatt, die NEOS sehen die Blätter nur ganz sanft an, ohne an ihnen zu orakeln, die SPÖ hat die Abzählblüte gerade fix weggeworfen, und die wankelmütigen Blauen zählen an Vorentscheidungs-Blümchen ab, wann und ob sie eine Entscheidungs-Margerite in Rupf nehmen sollen.
Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 26. Oktober 2019.