Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 22/2019 zum 29.5.2019.
Liebe Frau Andrea,
angeregt durch Ihre essentiellen Worterklärungen, möchte ich Ihnen eine Wortschöpfung zusenden, die mich immer wieder beim Wetterbericht fasziniert beziehungsweise nachdenklich macht: Tiefliegende Wolken ziehen vorbei. Mir geht es immer wenn ich liege so, dass ich auch nirgends vorbei ziehen kann; außer meine Frau zieht mich samt meiner Liegegelegenheit durch die Gegend, damit ich auch etwas erleben kann und nicht nur die gegenüberliegende – auch hier: warum heißt es nicht die „gegenüberstehende“- Wand ansehen kann.
Ganz liebe Grüße,
Werner Nessizius, Pressbaum, per Email
Lieber Werner,
Sprache versucht Verhältnisse auszudrücken, Gegebenheiten und Beziehungen. Und wir sehen schon in den Begriffen, die ich hier (nicht ganz ohne Absicht) verwende, Metaphorisches. In unserem Fall die Verba halten, geben, ziehen. Allesamt Wörter, die unsere körperlichen Möglichkeiten abbilden. Im Rahmen unserer Fähigkeiten metaphorisch zu denken, entstehen Sprachbilder und Wortschöpfungen, die wir in ganz anderen Erfahrungsfeldern kennengelernt haben. Sprache ist ein komplexer Wirrwarr von Assoziationen.
Zurück zu unseren Begriffen. Wolken liegen tief, weil sie dann an Decken erinnern, manchmal türmen sie sich auf, wie Erdhaufen, manchmal ziehen sie vorbei, wie Schiffe, militärische Truppen oder Herden aus Vieh. Manchmal steht die Luft, manchmal ist sie zum Schneiden dick, manchmal klirrt sie gar, gibt also Töne von sich. Unablässig greifen wir zu Sprachbildern, um Gesehenes und Erfahrenes wiederzugeben.
Warum aber liegt die Wand gegenüber, wo sie doch steht wie wir, vertikal, aufgerichtet? Mit einiger Wahrscheinlichkeit kommt dieses Sprachbild aus der Geometrie, und damit verbunden, der architektonischen Planung. Bei Rechtecken sprechen wir von Seiten, die einander gegenüberliegen, ganz einfach, weil das Blatt, auf dem wir das darstellen, liegt. Auch in der Benennung der Verhältnisse in einem Grundriss sprechen wir daher von Gegenüberliegendem. Es spricht nichts dagegen, in gebauter Architektur von gegenüberstehenden Wänden zu sprechen. Auch wenn wir davor liegen.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina