Der Maibaum

Er steht in höchstem Ansehen. Einerseits ist er hoch, andererseits kann man ihn lange ansehen. Der Maibaum ist der wichtigste Baum des Jahres. Dass er glatt ist wie ein toter Knochen wird durch seinen grünen Wipfel kompensiert. Seht her, sagt uns der Maibaum, ich lebe noch, ganz oben, wo die Luft schon dünn ist. Ganz oben, wo die Preise wohnen. Glatt ist der Maibaum, damit man an ihm hochklettern kann. Oder so: Glatt ist der Maibaum, damit man an ihm das Scheitern allen Hochkletterns üben kann. Denn wer sich im Scheitern übt, hat mehr Erfahrung darin. Das ist die Botschaft des Maibaums. Jedes Dorf stellt sich einen auf.

Noch bevor der Maibaum aufgestellt ist, ist er selbst vom Scheitern bedroht, dann geht es noch nicht darum, wer sich unter Lebensgefahr eine Höhenluft-Salami fangen kann, oder eine Tafel Todeszonen-Schokolade. Sobald der Aufstelltermin des Maibaums naht, droht ihm das Ungemach, von Maibaumaufstellern aus dem Nachbardorf gestohlen zu werden.

Auf symbolischer Ebene ist der Maibaum der Kapitalismus selbst. Das ländliche Individuum lernt unter Mühe und Kompagnonbeteiligung das Aufstellen eines Risikoprojekts (Startup würde man heute sagen). Verbunden damit ist die Gefahr, dass das Präsentationsobjekt (der schöne Maibaum) andere Marktteilnehmer (die Burschen vom Nachbardorf) zum Diebstahl anregt (zur Marktbereinigung beziehungsweise feindlichen Übernahme). Ist der gestohlene Maibaum lokalisiert, kann er durch Gastronomiezinsen abgelöst werden. Manche sehen hier den wahren Spaß an der Sache (den Sinn des Lebens).

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 18. Mai 2019.

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