Eiskarte 2019

„Was hättma denn gern?“ ist die erste und zentrale Frage, die einem österreichischen Kind gestellt wird. Sie berührt Entscheidungen zu Form und Inhalt gleichermaßen wie Geschmackskriterien und ökonomische Verhältnisse. Eisessen ist Faktenproduktion. Wir wählen, was uns Glück verspricht. Auch wenn uns Zahnschmerz und Bauchweh nicht unbekannt sind: Es geht, trotz der Gültigkeit der Entscheidung um das Hier und Jetzt, um Stimmung und Gefühl. Die Wahl des richtigen Eises ist der erste demokratische Akt eines österreichischen Individuums. Es lenken uns Herkunft und Millieu, lokale Usancen und die Gesellschaft, die uns momentan umgibt. Es nötigt uns die Belastbarkeit der Information.

Auf bunten Tafeln werden Möglichkeiten von verwirrender Dimension eröffnet, aber Obacht! Die Eiswahl ist auch vom Scheitern bedroht: Wird der neue Combi-Lutscher munden? Schmeckt der Lieblings-Becher noch vertraut? Und wenn uns die Enttäuschung ereilt, wer trägt Schuld, wir die Wählerin, der Wähler, oder es, das Eis, das Gewählte? Hat dann die Sortentafel versagt? War unsere Gier zu groß oder schlicht die Unwissenheit über das Gefrorene an sich.

Im ersten demokratischen Elektionsvorgang unseres Österreicherlebens, der Wahl des richtigen Eises, wird Erkenntnis produziert – sie oszilliert zwischen lebenslanger Präferenz und dem Akutleid der falschen Wahl. Wenn zwar die Farbe stimmt, aber nicht der Geschmack, wenn die Lieblingsfrucht fremdelt oder die Form uns missfällt. Beim nächsten Eis wird alles anders, sagen wird dann. Oder: Gleich noch eines.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 11. Mai 2019.

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