Wem gehört der Gehsteig?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 15/2019 zum 10.4.2019.

Liebe Frau Andrea,
ich brauche Ihren Rat! Vor ein paar Tagen hatte ich einen kleinen Beef mit einer Hundebesitzerin, die mir etwas unwirsch mitteilte, der Gehsteig gehöre nicht mir (und meinem Kinderwagen) allein. Auslöser war mein gehauchtes „Oida“, ausgestoßen, während ich der frisch gemachten Lacke ihres Hundes ausweichen musste. Ganz ohne Aufregung: Wem gehört in Wien der Gehsteig?

Liebe Grüße,
Rani Schmelzer, per Email

Liebe Rani,

das Miteinander aller Teilnehmenden am öffentlichen Raum findet im Rahmen komplizierter Regeln statt, die gewohnheitsmäßig gebrochen und adaptiert werden. Wir wollen uns aus Gründen der emotionellen Ökonomie nicht auf juristisches Trottoir begeben und auch den Straßenbelag des Moralischen nicht betreten. Eltern von Kindern im Buggy-Alter, noch mehr aber Hundebesitzende sind hochsensible Lobby-Parteien, die in Sorge um ihr Liebesklientel zu Radikalpositionen neigen. Im Idealfall nähmen alle auf alle anderen Rücksicht. Gehende auf Daherradelnde, Äusserlngehende auf Scooternutzende, Kinderwagenpiloten auf Liefergutschiebende. Autotüren gingen niemals unvermutet auf, Blumentöpfe fielen niemals aus luftiger Höhe. Wem gehört nun der Gehsteig?

Obwohl schon in der Antike entwickelt, sind dauerhafte Pflasterungen eine relativ späte Erungenschaft der mitteleuropäischen Stadt. Bis in die Gründerzeit dürfen wir uns die Straßen und Gassen Wiens als durchgehende Begegnungszone vorstellen. Gehsteige brauchte niemand. Sie wurden erst wichtig, als die explodierende, aber noch nicht motorisierten Großstadt in heute nicht mehr vorstellbarem Maß in Pferdedung erstickte. Dem begegnete man mit der Einführung von Gehsteigen in erhöhter Position, die Pferde und Wagen wegen des Hindernis Randstein nicht befahren konnten. Hier, eine Stufe höher als die zugekotete Straße, waren Passanten vor Tierscheiße geschützt. Mit dem fast vollständigen Aussterben der Pferde (Fiaker sind eine kleinräumige Erinnerung) verschwanden nicht nur Getrappel und Gestank sondern auch das Bewusstsein für die Funktion des Gehsteigs. Er ist nur irrigerweise Defäkationsplattform für den besten Freund des Wieners.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

Ein Gedanke zu „Wem gehört der Gehsteig?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert