Miserabel: Das miese Individuum

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 06/2018 zum 7.2.2018.

Liebe Frau Andrea,
als treuer Leser Ihrer Kolumne, der in den letzten Wochen zunehmend Verwirrung erlebt, wende ich mich mit einer Frage an Sie zu einem Wort mit steigendem Kurs. Noch nie so oft wie in den letzten Wochen und Monaten – beginnend, glaube ich, mit einem Sonntagsinterview der neuen Außenministerin – habe ich das Wort „Individuum“ gehört und gelesen. Als in Wien sozialisiertes Kind mit mehrjährigen Aufenthalten in niederösterreichischen Internaten zum „Wadln vieririchten“ ist mir das Wort bekannt, aber selten in der negativen Konnotation als „du mieses individuum“. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Klarheit vermitteln könnten.
Mit freundlichen Grüßen,
Sepp Schöfmann, Krems, per Email

Lieber Sepp,

ein Spektrum an wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt sich mit dem Individuum. Philosophie und Soziologie, Anthropologie und Politikwissenschaften, Spieltheorie und Juristerei stellen Fragen an das Individuum und versuchen Antworten zu finden. Die Fachliteratur füllt spielend Regalkilometer. Das Individuum, wörtlich das Unteilbare, Unzuteilende, das (menschliche) Einzelwesen ist seit dem 16. Jahrhundert als Wort belegt, es steht dem Dividuum, dem Teilbaren, der Gesellschaft entgegen.

Fokussieren wir auf die Invektive „mieses Individuum“. Die Literatur ist recht unergiebig, was den Begriff selbst betrifft, nach einigem Dafürhalten hatte er eine erste Konjunktur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sogar die Umgebung des letzten Habsburgerkaiser Karl kennt das „miese Individuum“ und verwendet die Wendung, um Personen abwertend zu qualifizieren. Der Begriff verbindet scheinbare Gelehrtheit mit treffischerer Unterwelt-Lingo.

Sehen wir dazu das Wörtchen „mies“ an. Es kommt wider gängige Annahme nicht vom lateinischstämmigen „miserabel“, sondern aus der Gaunersprache des berlinerischen Rotwelschen des 19. Jahrhunderts und hat seine Wurzeln im westjiddischen „mis“, hässlich, ekelerregend, abscheulich, widerlich, dreckig, das seinerseits auf das Hebräische „meʾīs“, schlecht, widerlich, verachtet, verächtlich, zurückgeht, das passive Partizip zum hebräischen „meʾas“, verachten. Schmus also.

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