Silberblick, Selbstbildschau, Scheangeln

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 29/2017 zum 19.7.2017.

Wieso, werte Comandantina,
bezeichnet man leichtes Schielen eigentlich als Silberblick? Es geht um keine Wette und nix, ich will’s nur wissen.
Liebe Grüße,
Rainer Jäger, per Email

Lieber Rainer,

der liebevoll-verniedlichende Ausdruck hat eine noch weitgehend unerforschte Begriffsgeschichte. Es scheinen sich dabei Volksetymologien mit kulturgeschichtlichen Wahrnehmungen vermischt zu haben. Einigkeit besteht darüber, dass mit Schielen der opthalmologische Befund des Strabismus (vom griechichen στραβίζω, strabízō, “schielen”), einer Fehlstellung der Augen bezeichnet wird. Ausmaß und Form können sehr unterschiedlich sein und eine Vielzahl von Ursachen haben. In unseren Breiten sind etwa sechs von Hundert vom Schielen betroffen. Als Silberblick wird gemeinhin das leichte (niemals das schwere) Innenschielen bezeichnet. Nach unbekümmerter Ansicht metallurgisch-esoterisch orientierter Kreise soll der Begriff vom effektvollen Aufschimmern von Silber bei der Läuterung kommen. Kurz vor dem Erstarren des Metalls soll dieses einen eigenartigen Glanz bekommen, der an das leichte Schielen erinnern soll.

Mit größerer Wahrscheinlichkeit dürfte der Begriff von der Eigenwahrnehmung bürgerlicher (und vornehmlich weiblicher) Schichten des 19. Jahrhunderts kommen, die den „Silberblick“ von der Selbst-Betrachtung im Spiegel kannten, und ihn in schielenden Damen erkannten, auch wenn die so Bezeichneten ohne Spiegel unterwegs waren. Wurden doch damals erstmals brilliante Glasspiegel mit Silberhintergrund hergestellt. Die sprachliche Ähnlichkeit von Silberblick und Selberblick (soviel wie Blick auf das Selbst) mag hier auch unbewusst verstärkend eingewirkt haben.

Das Wienerische kennt für das Schielen den Ausdruck „scheangeln“, er geht auf das althochdeutsche „skelah“ in der Bedeutung „schräg“, „schief“ zurück und ist verwandt mit dem altgriechischen σκολιός, skolios, „krumm“. Das kennen wir als Diagnose „Skoliose“ für Rückgratverkrümmung. Eine Variante der emotionell bedingten Augenfehlstellung dürfen wir Verliebten zusprechen. Deren entrückten Blick bezeichnet das Wienerische wenig prosaisch als „schasaugert“.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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