Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 28/2017 zum 12.7.2017.
Liebe Frau Andrea,
wenn mir „der Reis geht“, habe ich Angst. Zumindest in Wien. Aber was hat das asiatische Getreide mit dem Fürchten zu tun?
Liebe Grüße,
Karina Milonig, Landstraße, per Twitter-Nachricht
Liebe Karina,
die Ursprünge der sehr wienerischen Begrifflichkeit des „Reisgangs“ wollen Forscher im Betriebs-Jargon einer sehr wienerischen Berufgruppe aufspüren, dem edlen Stand der Straßenbahner. Haltesignale, halsbrecherische Radfahrer und fahrlässige Kraftfahrzeuglenker fordern den ganzen Tramwaykutscher. Als schienengebundener Verkehrsteilnehmer kennt der Bimfahrer kein Ausweichen. Das ist Segen wie Fluch. Denn so gerne der Triebwagenpilot beschleunigt, so ungern fügt er sich in den gegenteiligen Vorgang, das Bremsen. Aus verständlichen Gründen: Führt doch rasche Verzögerung oder schlechter Schienenzustand infolge Laubfalls oder Nieselregens zu verhängnisvollem Rädergleiten – die generatorische Wirkung der Motore bleibt dabei aus. „Jössas, i reiß’ an Schlittn!“ (Jesus, ich löse eine Schlittenfahrt aus), ist kein seltener Schreckensruf aus dem Tramwayführerstand. In solchem Fall hilft nur mehr der Einsatz der Schienenbremse (einer magnetinduktiv wirkenden Notkufe) oder das Sanden. Mit der Streuvorrichtung können die Schienen vom Fahrerplatz aus mit Sand bestreut werden. Das grobe Gesteinsmehl dient der Vergrößerung der Reibung und heißt, wir ahnen es bereits, im Jargon der Bimfahrer schlicht „da Reis“. „Mir geht da Reis“ hat längst die Straßenbahn verlassen und ist zum wienweiten Synonym für den akuten Angstzustand geworden. Das tramwayfahrerische Furcht-Manöver selbst hinterlässt eine spezifische geologische Formation, das „Angsthäuferl“. Der Sandhaufen entsteht im Zuge der Notbremsung, wenn der Fahrer „beim Reisgang“ den Sandstreuhebel so lang betätigt, dass der Sand auch nach dem Stillstand des Zuges noch rieselt. Das „Angsthäuferl“ ist auch für Fahrgäste viszeral spürbar: Beim Wieder-Anfahren muss das Fahrgestell über den Haufen klettern. Um das Angsthäuferl kümmern sich seit ältesten Zeiten die Außendienst-Arbeiter der Oberbauerhaltung, im Straßenbahner-Wienerisch „Gleis-Behm“ (Geleise-Böhmen) genannt.
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