Liebe und andere Missverständnisse

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 47/2016 zum 23.11.2016.

Liebe Frau Andrea,
können Sie mir erklären, wie es dazu kam, dass wir bei Anreden den Ausdruck “Liebe/r“ verwenden? Auch bei gar nicht so gut Bekannten, mit denen wir vorerst über “Sehr geehrte/r …“ verkehren, kommt es sehr schnell zur Anrede “Liebe/r“ – und auch bei abgekühlten Freundschaften schreibt man immer noch “Lieber oder Liebe …“ Wieso eigentlich?
Birgit Cottogni, Währing, per Email

Liebe Birgit,

wie gehen wir miteinander um, wie sprechen wir einander an, in einer Zeit von Hallo und Heast? Zur Präzision unserer kleinen Erörterung muss festgestellt werden, dass Sie schriftliche Anreden ansprechen, wir diese aber nicht ganz von solchen im Rahmen körperlicher Präsenz trennen können. Zwei antagonistische Kräfte werden in unserem Thema sichtbar. Die Bremskraft des Beharrens auf alte Formen, und der Schub, den die Kommunikationstechnik der Moderne entwickelt. Waren zu Zeiten unserer Großeltern Briefpartner in distanten Verhältnissen noch ‘sehr geehrt‘, kannten unsere Urgroßeltern noch Wohlgeborene, Hochwohlgeborene und Exzellenzen. Davor differenzerte man gar noch zwischen Geduzten (Familienmitglieder und Untergebene), Gesiezten (Bekannte und Unbekannte sowie Angebetete), und Geihrzten (Majestäten und Wandersleute). Die Zeiten dieser Komplikationen sind vergangen, ein Du am Arbeitsplatz und im Vierbuchstabengroßkaufhaus gelebter Usus. In Boboville ist man grundsätzlich miteinander per Du, am Land, wo diese Sitte herkommt, selbstredend. Es soll uns also nicht wundern, wenn die Sehrgeehrtheit im brieflichen Miteinander unaufgehalten erodiert. Selbst diese Kolumne hat sich dem Trend zur Verduung geöffnet, indem sie das Hamburger Sie eingeführt hat, eine Anrede per Vornamen unter Beibehaltung des Siezens. Auch in der Frage abgekühlter Freundschaften lässt sich feststellen, dass Eingerissenes, in unserem Falle die briefliche Anrede “Liebe/Lieber”, meist weiterreisst. Menschen, mit denen wir Körpersäfte ausgetauscht haben, lassen sich nur selten wieder auf die Anrede “Sehr geehrt” ein. Unter zürnenden Bekannten ist der Entzug des Du-Wortes allerdings noch da und dort üblich. Und Beschwerdebriefe beginnen nicht selten mit der limitierten Anrede “Wenig geehrte Firma Hulesch & Quentzel”.


comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

Ein Gedanke zu „Liebe und andere Missverständnisse“

  1. Lieber Herr Wallner,
    vielen Dank für Ihre Zeilen!

    Möchten Sie sie vielleicht unter den betreffenden
    Artikel auf meiner Homepage stellen?

    http://comandantina.com/2016/11/23/liebe-und-andere-missverstaendnisse/

    Das wäre doch fein!

    Beste Grüße,
    Andrea Maria Dusl

    Am 23.11.2016 um 09:13 schrieb Gerold Wallner :

    verehrteste!

    erlauben sie mir einen kleinen persönlichen beitrag zu ihrer erwähnung des hamburger sies in ihrer kolumne aus der nummer 47 ihres geschätzten blatts:
    eine alte großmutter meiner verwandtschaft, aufgewachsen im gemeindebau des roten wiens und aus diesem nie herausgekommen, erzählte mir einst, wie sie auf das ansinnen ihrer jahrzehntelangen nachbarin reagierte, nun doch vielleicht zum vertraulichen du überzugehen. sie hätte wohl dem du zugestimmt, aber auf der höflichen anrede bestanden: „du, frau bracke …“

    bis sich mir wieder ein anlass bietet, sie mit einer kleinen zuschrtift zu behelligen, verbleibe ich mit den besten grüßen ihr treuer leser

    rom ist nicht an einem tag zerstört worden – cool runnings – gw

    http://www.gerold-wallner.info
    http://www.19-antique-20.at

    petra haarmann, jörg ulrich und gerold wallner, gültige aussagen.
    was ist die bürgerliche gesellschaft und warum hat sie keinen bestand?

    g. m. tamás, kommunismus nach 1989.
    beiträge zu klassentheorie, realsozialismus und osteuropa – herausgegeben und übersetzt von gerold wallner

    beide erschienen im verlagshaus mandelbaum (www.mandelbaum.at)

    gerold wallner, carl michael bellman – der beginn moderner dichtung in schweden.
    essay zu bellman und übersetzungen aus fredmans epistlar und fredmans sånger auf cd-rom beim autor erhältlich

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