Wohin gehen die Wiener Fenster auf?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 35/2016 zum 31.8.2016.

Liebe Frau Andrea,
eine Freundin von mir, sie ist Architektin, behauptet, in Wien gingen die Fenster früher alle nach aussen auf. Echt jetzt?
Bettina Pöltl, Neubau, per Email

Liebe Bettina,

in unseren Wohnungen gibt es mehr Fenster als Betten. Trotzdem sind die gläsernernen Löcher in unseren Häusern für viele ein Mysterium. Sehen wir uns das Wort selbst an. “Fenster“ kommt aus dem Lateinischen und ist eine verschliffene Beschreibung seiner Funktion. Aus “fert nos extra” (bringt uns nach draußen) wurde fenestra. Die Germanen hatten die Maueröffnung noch als Wind-Auge gekannt, wie die englische Bezeichnung “window” zeigt. Das Althochdeutsche war schon poetischer und benannte das Fenster “augadoro“, Augentor. Wohin gingen die Augentore auf? Die kleinen Wiener Fenster des Mittelalters gingen nach innen auf, aussen schützte der Fensterladen. Mit der Produktion grösserer Glasscheiben vergrösserten sich auch die Fenster. Mehr Licht (und im geöffneten Zustand mehr Luft) in den Wohnungen bedeutete in den kälteren Jahreszeiten aber auch mehr Wärmeverlust. Die Barockzeit antwortete mit einer zusätzlichen Fensterebene, dem Winterfenster, es war aussen angeschlagen und ging nach aussen auf. Diese Typologie des Kastenfensters (Altwiener, Hamburger oder Grazer Fenster genannt) war lange Zeit die vorherrschende. Vielen sind die Bilder der Hausfrauen und Bedienerinnen in Erinnerungen, die in gefährlicher Höhe in den Fenstern standen, eine Hand am Fensterkreuz, die andere in den Putzlappen gekrallt, im ständigen Versuch, die äussersten Ecken der Oberlichten zu erreichen und dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Nicht allen gelang die Übung. Die Gründerzeitarchitektur hatte indes längst das Kastenfenster modifiziert und als ganzes innen im Fenstergewände eingebaut. Bei diesem Typus, dem Altberliner oder Wiener Stockfenster schlugen nun alle Flügel nach innen auf. Hausfrauen fielen nicht mehr aus den Fenstern. Spätere Zeiten modifizierten diesen Typus in grotesker Weise. Endpunkt der Reise des Augentors in die Moderne war das Isolierglas-Plastikfenster. Viel Rahmen, wenig Glas. Düsternis. Depression. Viele wünschen sich das lichte Altwiener Kastenfenster zurück. Es lässt sich noch bitten.
comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

2 Gedanken zu „Wohin gehen die Wiener Fenster auf?“

  1. Werte Frau Andrea,
    ein Tischler hat mir erzählt, es gäbe auch zwischen Altwiener und Grazer Fenster einen Unterschied: das Altwiener Fenster (so wie auch das neue Wiener Fenster) hätte einen einzigen Stock, der dann auch zwischen den Flügeln mit Holt verkleidet ist. Das Grazer Fenster hätte zwei Stöcke, den inneren und den äußeren. Die Flügel des letzteren wurden, zumindest in Graz, im Sommer ausgehängt und durch Balken, sprich Fensterläden ersetzt.

  2. Ein paar Anmerkungen zur wie gewohnt interessanten Abhandlung über Windows 0.1, bevor Microsoft sein windäugiges, um nicht zu sagen schwindliches, Betriebssystem herausbrachte:

    Wir erinnern uns an das Altwiener Kastenfenster, bei dem die inneren Flügel nach innen und die äußeren nach außen aufgingen, nicht aus dem Barock, sondern weil dieser Fenstertyp in den wiener Gemeindebauten nach dem 2. Weltkrieg bis in die späten 50er aus Kostengründen verwendet wurde. Im Lauf der 70er wurden die noch vorhandenen durch zeitgemäßere ersetzt.
    Im Kasten war Platz für ein Fensterpolster, um die Zugluft zu reduzieren, und für eine Rollo gegen zu viel Sonne oder Blicke. Darüber hinaus haben im Fensterkasten immer viele Marienkäfer überwintert.
    Im Winter kam innen noch ein schwerer Vorhang dazu, der etwa das untere Drittel des Fensters bedeckte und bis nahe an den Fußboden reichte. Er leitete die Zugluft nach unten, wo sie am Boden entlang zum Koksofen am anderen Ende des Raums floss, dort erwärmt über den Plafond wieder zurück zum Fenster. Dieser Kreislauf machte den Raum gemütlich warm, sofern man dicke Stutzen und warme Patschen anhatte. Die automatische Frischluftzufuhr ermöglichte auch mein Überleben bei den damaligen Öfen.
    Die nach außen sich öffnenden Flügel hatten den Zusatzvorteil, dass Regenwasser an der Unterkante nicht in die Wohnung dringen konnte, weil der Fensterspalt dort aufwärts verlief. Gegen Eindringen von Wasser an der Oberkante schützte ein kleines Vordach aus Metall.
    Weder die Gründerzeit-Fenster (Stockfenster) noch die Kastenfenster hatten Dichtungen, sie alle „schlossen“ Holz auf Holz. Bei den Stockfenstern, wo beide Flügel nach innen aufgingen, hatten wir bei Schlagregen Sturzbäche in der Wohnung. Mit diversen Dichtungsmaterialien ließ sich das bremsen, aber nie komplett abstellen.
    Erst die geschmähten Plastikrahmen-Fenster mit haltbaren Dichtungen konnten beide Vorteile vereinen: nach innen aufgehen und Regenwasser draußen lassen.
    Inzwischen gibt es die ja auch wieder aus Holz mit vernünftigen Dichtungen.

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