Sternenkunde

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 5.3.2016.

Das azurblaue Fahnentuch ist um die Hälfte breiter als hoch. Auf unsichtbarem Kreis in der Mitte der Flagge sind zwölf goldene Sterne angeordnet. Der Kreis mißt zwei Drittel der Fahnenhöhe. Jeder Stern hat fünf Zacken, deren Spitzen einen unsichtbaren Kreis mit dem Durchmesser von jeweils einem Neuntel der Fahnenhöhe berühren. Alle Sterne stehen senkrecht und sind wie die Stunden auf dem Zifferblatt einer Uhr angeordnet. Ihre Zahl ist unveränderlich.

Die heraldisch-grafische Anweisung der Europäischen Union ist komplex. Wir lernen schon aus der vexillologischen Belehrung viel über das Wesen des Staatenbundes: Es geht mehr um Breite als um Höhe. Europa wird von Mittelpunkten, Berührungen, Zacken und Zahlen bestimmt. Die Uhrzeit spielt eine Rolle, das Unveränderliche und vor allem: Das Unsichtbare.

Jenseits der heraldischen Idealvorgaben Blau und Gold (die alten Farben der französischen Könige übrigens) gilt nicht das Niedergeschriebene, sondern das Umgesetzte. Blau ist also nicht blau, und gold nicht golden, sondern markt-und branchenkonform “Pantone Reflex Blue” und “Pantone Yellow”.

Sehen wir uns die Sterne an. Bibelfeste erkennen in der europäischen Fahnensymbolik unschwer den neutestamentarischen Aspekt, lesen wir doch in der Apokalypse des Johannes 12,1 und 12,2: “Dann war am Himmel eine außergewöhnliche Erscheinung zu sehen: Eine Frau, die mit der Sonne bekleidet war; unter ihren Füßen hatte sie den Mond und auf dem Kopf trug sie einen Kranz von zwölf Sternen. Sie war schwanger und stand kurz vor der Geburt. Die Wehen hatten bereits begonnen und sie schrie vor Schmerzen.”

Die Apokalypse wird populärkulturell mit dem Untergang gleichgesetzt. Indes bezeichnet das griechische Wort (immer diese Griechen!) den Vorgang der Offenbarung, wörtlich der Enthüllung. Das Europäische Projekt ist im Lichte des Geschilderten die schmerzreiche und von Schreien begleitete Dauergeburt aus unsichtbarer Mutti (Sonnenkleid hin oder her.) Getreten wird die Mondsichel (der Islam?) Was kommt zur Welt? Noch wissen wir es nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert