Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 12.9.2015.
“Mögest du in interessanten Zeiten leben!”, lautet ein chinesischer Fluch. Die Verwünschung wurde 1936 vom britischen Botschafter in China, Sir Knatchbull-Hugessen in dessen Memoiren in Stellung gebracht und dient seither als Gala-Aphorismus für krisenhafte Zeitabschnitte. Ob die Sentenz überhaupt chinesischen Ursprungs ist, ist für ihre semantische Qualität gar nicht wichtig.
In besonders interessanten Zeiten leben nicht nur wir, sondern auch die gewählten und ungewählten Volksvertreter. Der Fluch des Werner Faymann, Mitglied der ersten Gruppe, ist nicht nur der politische Gegner, sondern neuerdings auch der politische Freund. Diese Befindlichkeit hat die Sozialdemokratie von den Christlichsozialen übernommen. Dort hat die Obmanndebatte zumindest Tradition. Werner Faymann steht an einem Scheideweg, in Eisenbahnerkreisen Weiche genannt. Darf er schon flüchtlingsfreundlich sein, oder muss er erst den Schwenk der Kronenzeitung abwarten? Wird ihn der Wiener Wahlkampf beschädigen oder beschädigt er den Wiener Wahlkampf? Wo genau verläuft die Trennlinie zu blau? Noch ausserhalb der Partei, oder schon innerhalb?
Aber sind diese Positionserörterungen nicht schon längst überholt? Haben die abertausenden Helfer und Unterstützer am Wiener Westbahnhof, in Nickelsdorf, Linz und Salzburg nicht längst Kunde von einem anderen Österreich gegeben? Einem Österreich der Leidenschaft, der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, einem Österreich der internationalen Solidarität?
Nicht geringen Anteil am Umschlagen der Stimmung in der Bevölkerung hat der Sohn einer Sekretärin und eines Elektrikers aus dem 11. Wiener Gemeindebezirk. Der studierte Kommunikationswissenschaftler Christian Kern ist Chef der Österreichischen Bundesbahnen und Sozialdemokrat der alten (eigentlich der neuen) Schule. Unbürokratisch ließ er Sonderzüge aufs Gleis stellen, um Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen.
Manfred Klimek, Fotograf und Autor, und profunder Beobachter des Landes hat es in einem Facebook-Posting auf den Punkt gebracht: “Kern hat sich dieser Tage zum Kanzler gemacht und dokumentiert mit seinem Handeln, welche Prioritäten das Land hat.” Die Sozialdemokratie ist besser als ihr Ruf. Sie hat einen guten Kern. Interessante Zeiten.
Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 12.9.2015.