Reitzendes Städteklein

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 17/2015.

Liebe Frau Andrea,
als jahrelanger Leser des Falter, aber als Nichtwiener nur mangelhaft mit dem Wienerischen vertraut, erlaube ich mir hiermit, als jemand in dessen Schulzeit diese Sprache noch nicht Unterrichtsgegenstand war und Wien geographisch nur als in Bezirke mit vorgegebenen Postleitzahlen eingeteilte Bundeshaupstadt gelehrt wurde, Sie um Auskunft über den Begriff des „Grätzel“ und dessen geographische Wien-Verteilung zu bitten.
Mit liberté, egalité und fraternité!
Herbert Knapp, St. Georgen am Längsee, per Email

Lieber Herbert,

wo liegen die Grätzel, jene ungenau begrenzbaren Stadträume, die in anderen großen deutschsprachigen Städten schon ganz anders heißen – in Berlin, Hamburg oder Hannover bekanntlicherwiese Kiez, in Köln Veedel. Eine spürbare Konjunktur dürfen wir momentan dem Karmeliter- und dem Volkertviertel im 2. und dem Servitenviertel im 9. Bezirk bescheiden, etwas ruhiger geht es im Freihaus- und Schleifmühlviertel im 4. Bezirk zu. Als saturiert gelten der Spittelberg und jene Gebiete im 7. Bezirk, die inzwischen als Boboville firmieren. Naschmarkt und Bermudadreieck befinden sich urbanistisch gesehen in Narkose. Der Name Grätzel, in den 70ern von Erhard Busek und seinen Bunten Vögeln ausgegraben, wird gerne vom mittelhochdeutschen ‘Gereiz’, verwandt mit dem Verb ‘reißen’, in der Bedeutung ‘Umkreis’ abgeleitet. Eine undeutliche Bestätigung dieses möglichen Ursprungs liefert die Bezeichnung “Gereut” für Wüstungen aus dem 14. Jahrhundert in den Gegenden um den Heumarkt und beim Stubentor. Grössere Wahrscheinlichkeit für die Herkunft des Begriffs ‘Grätzels’ hat aber eine andere Etymologie. Im Slawischen bezeichnet ‘grad’ Burg oder Stadt, allgemein eine eingefriedete Fläche. Verwandte Wörter sind unser Garten (lateinisch hortus), sowie der englische yard (Hof). Die Verkleinerungsform zu grad ist gradec, der befestigte Ansitz, Ort, die kleine Burg. Im slawisch-deutschsprachigen Übergangsraum führte das zu Formen wie Graz, Gratz, Grätz. Die Wiener Bezeichnung Grätzl, Grätzel, Gretzel ist nichts anderes die Verkleinerung dieser Verkleinerung – und damit das, was wo anders das Viertel ist, das Quartier, der Borgo, der Barrio, die Neighborhood.

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