Für die Osterausgabe der Salzburger Nachrichten vom 4.4.2015.
Er steht da, nackt bis auf einen Lendenschurz. Das schweißgetränkte Haar fällt in dunklen Locken in seinen Nacken. Seine Arme sind mit festen Seilen nach hinten gebunden, auch an den Knöcheln ist der Mann an die ruinösen Reste einer römischen Marmorsäule gefesselt. Sein Blick geht nach oben, fragend, zweifelnd.
Als ich ein Volksschulkind war, sah ich Mantegnas Gemälde des heiligen Sebastian das erste Mal, in einem Kunstbuch meiner Eltern. Schon der Anblick einer Fesselung war befremdend, dazu der unverschämte, nur durch Leinenfetzen verhüllte Eindruck von Nacktheit. Ratlose Verstörung aber löste die zentrale Unübersehbarkeit des Bildes in meiner kleinen Kinderseele aus: Der Bleiche war gespickt mit Pfeilen. Lange, dünne Spieße, aus vielen Richtungen in den Körper des Mannes geschossen. Sie steckten in den Weichteilen, in Hüfte und Brust, durchbohrten die Beine an mehreren Stellen und wiesen in die vielen Richtungen, aus denen sie abgeschossen wurden.
Auch für den naiven, unbedarften Kinderblick war klar, das waren tödliche Wunden. Dass Pfeiltreffer das Leben ausbliesen, wussten Schulkinder des Televisiozäns aus den Sonntagnachmittags-Western. Wie Pfeile sich angriffen und wie man sie abschoss, hatten uns die Cowboy-und-Indianer-Spiele gelehrt. Das Bild des pfeilwunden Sebastian war in eine kindliche Gefahrenwelt eingebettet. Auch am Marterpfahl konnte man bald landen, angebunden mit Wäscheleinen, in Angst und Tränen getrieben, der Demütigung der Unfreiheit ausgesetzt, dem Hohn, dem Spott, dem Schmerz. Und der größten Pein, der Gleichzeitigkeit von Erwartetem und Unerwartetem. Würde, was immer auch passierte, schlimmer werden? Gab es Erlösung? Und worin bestand sie? Im Hilfeschreien? In der Agonie? In der Hingabe an die Peiniger?
Das Bild des pfeilgespickten Sebastian war unerträglich. Das Buch, in dem es sich verbarg, musste immer wieder geschlossen werden, dann zaghaft, voll Schaudern wieder aufgeschlagen, in der schleichendschleppenden Ahnung, ein unausgesprochenes Verbot zu übertreten. Unausgesprochen von mir selbst. Schau das Bild nicht an, sagte ich mir. Greif nicht nach dem Buch. Schlag es nicht auf. Nicht auf der Seite mit dem Bild. Schau es nicht an! Schau es nicht an! Und dann, in der Hingabe an die Angst: Schau es an, damit du es nicht mehr anschauen musst. Schau es an, damit das Anschauen die Erinnerung daran auslöscht. War das Schaudern anfangs nur episodenhaft zu ertragen, wurde aus dem Zwang bald Übung, aus dem Schrecken Kenntnis. Bald erging ich mich in Details, versuchte zu erfassen, welcher Pfeil wohl der erste gewesen sein mochte, welcher der zweite, welcher der dritte.
Hoffnung keimte auf, die Projektile mochten schmerzhaft gewesen sein, aber nicht tödlich. Was auch immer tödlich heißen mochte für ein Kind, das den Tod nur aus Erzählungen kannte. Vor allem aus einer. Der zentralen. Der Erzählung vom Tod des Gottessohns. Der Botschaft vom großen Schmerz.
Der heilige Sebastian war ein Märtyrer, beschied man mir auf Nachfrage. Und er war anders. Verletzlicher. Verletzter. Nackter. Christushafter. Kam er doch aus einem Zwischenreich der Heiligkeit. Seine Pose war nicht milde und wissend wie die Heiligen, die am Heiligenbildertischchen auflagen. Fromm blickende Ordensleute mit goldenen Scheiben hinterm Kopf. Sie war nicht pompös und kontrolliert wie die der reichen Orientalen aus dem Morgenland, der Heiligen Drei Könige, die auf Altarbildern glänzten und aus Krippenbildern lachten. Sie war nicht heroisch wie die des Erzengels Michael, des heiligen Ritters Georg oder des tapferen Feuerwehrsoldaten Florian. Sebastian war von anderer Sorte Heiligkeit. Sebastian verharrte in Opferpermanenz. War entrückt ins ewige Sterben. Darin lag und liegt die Kraft, mit der uns die Bilder seines Martyriums fesseln.
Was aber ist Martyrium? Die Märtyrer (und die Märtyrerinnen) entlehnen ihre Wörtlichkeit vom griechischen μάρτυς (mártys), Zeuge. In oberflächlicher Betrachtung gilt das Zeugnis der Märtyrer dem Geschehen, dem Martyrium und damit der eigenen Rolle als Objekt und Opfer. Die Märtyrer, die Gemarterten, sind besondere Opfer, sie sind den eigenen (in der Regel religiösen) Vorstellungen in Unausweichlichkeit und bis zum Äußersten verpflichtet. Das Äußerste ist der qualvolle, gottgeweihte Tod.
Bei genauerer Betrachtung ist der Märtyrer, die Märtyrerin der Zeuge, die Zeugin jener Ort, an dem sich Täter, Opfer, Zusehende und Bild-Betrachter begegnen. Das Bild stellt diese Beziehung her, ja, erzeugt sie erst. Das Bild macht die Betrachter des Bildes ebenfalls zu Zeugen. Der Blick auf das Opfer ist indes für Zusehende und Täter (und damit auch für die Betrachter) nur durch die Absicht und die Tat unterschieden. Betrachter können beide Rollen einnehmen, ja, werden in die Ambivalenz dieser Polarität unausweichlich gezwungen. In der Mechanik der Beziehungen des Bildes vom Märtyrer gibt es indes noch weitere Unsichtbare. Den Erzeuger des Bildes und den Besteller des Bildes. Ihre Legitimation erhalten sie vom scheinbar schwächsten Protagonisten: dem Betrachter des Bildes.
In letzter Konsequenz aber ist er, ist sie nicht nur Empathieverbündeter des Opfers, sondern Täter und Täterin. Dass die Tat nur um des Bildes Willen gesetzt wird, zeigen uns die Mordbanden des „Islamischen Staats“. Unausgesetzt und nahezu täglich.
Andrea Maria Dusl. Für die Osterausgabe der Salzburger Nachrichten vom 4.4.2015.