Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 12/2015.
Liebe Frau Andrea,
jetzt ist schon wieder was passiert, wo ich nicht weiter weiß. Viele, sehr viele Lokale in Wien posaunen es heraus: „Frühstück von 8h früh bis 20h”. Was soll das? Ich will nicht zu Mittag oder am Nachmittag frühstücken! Wie im Namen schon enthalten: In der Früh ein Stück, zu Mittag ess’ ich gerne eine Suppe, Hauptspeise und Dessert, soll nicht zu lange dauern, weil ich mich auf meine Zigarre danach freue (Zitat Sigmund Freud) und abends ein Nachtmahl naturgemäß. Was soll diese Belästigung mit dem durchgehenden Frühstück? Das ist wohl nur für schlecht erzogene Leute (Tischsitten?) oder Chaoten!
Bitte liebe Frau Andrea spenden Sie mir Trost und Rat,
Dietmar Werner, Chevalier Tarte d’Isy, Weinbauer in Poppendorf Bergen,
Südburgenland, per Email
Lieber Dietmar,
Sie müssen jetzt sehr stark sein. In der grossen Stadt gibt es “viele, sehr viele”, die nächtens nicht den Polster drücken, sondern in Spelunken und Tanzschuppen rummachen. “Drah’n”, wie die Wiener sagen. Getrieben sind Sie dabei von der Ökonomie der Lust. Im Schutze der Dunkelheit lässt sich besser munkeln, besser schunkeln, besser funkeln. Das Leben in der Nacht zollt indes Tribut. Schlaf will aufgeholt werden, zumindest aber absolviert. Wenn die Nachtvögel aufstehen, steht die Sonne meist schon hoch am Himmel. Das mag man beklagen oder unsittlich finden, gleichwohl ist es gelebte Realität, ja mehr schon – es ist urbanes Brauchtum. Es sei darin erinnert, dass die grösste Agglomeration des Westens, New York, sich rühmt, die Stadt zu sein, die niemals schlafe. Im Lichte dieser Zusammenhänge darf die Mode des späten Frühstücks, eingenommen bis zur Dämmerung, als eines von vielen Modellen in der Produktion von Freiheit und Individualität gesehen werden. Die grossen Hotels dieser Welt bedienen seit jeher diese Devianzen am Ernährungssektor. Morgenmahlzeiten werden rund um die Uhr serviert. Allenfalls wird das Frühstück aufs Zimmer gebracht – um konservative Gäste beim Mittagsspachteln oder beim Nachtmahlen nicht mit dem verstörenden Anblick weicher Eier, frischgepressten Orangensafts und dem Duft von Marmeladesemmeln zu inkommodieren. Im öffentlichen Raum, so fürchte ich, werden Sie das Spätstück gütig akzeptieren müssen.