Patient Europa

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Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 14.3.2015.
Gerne und oft wird im Zusammenhang mit Europa von einer Familie gesprochen. Und von gemeinsamen Werten, die zu verteidigen es gelte, gegen wen auch immer. Der Befund der sich aus diesen wenigen, fast rührenden Sätzen ergibt, ist niederschmetternd. Wer solches von sich gibt, ist von bösem Zynismus befallen, mit grösserer Wahrscheinlichkeit aber Protagonist psychotischer Auffälligkeiten. Es gibt keine Familie Europa. Gäbe es sie, fänden wir keine ihr eigenen, gemeinsamen Werte. Und gäbe es gemeinsame Werte, niemand könnte konstatierten, dass sie diese auch verteidigte.
Moment. Es gibt kein Europa? Doch, es gibt Europa, es gibt die Europäische Union. Aber sie ist keine Familie. Sie ist ein festgezurrtes Bündel konkurrierender Halbgeschwister mit divergierenden Interessen und zweifelhaften Freudeskreisen. Europa hat eine gemeinsame Geschichte aber keine Geschichte der Gemeinsamkeit. Zwischen einem Unternehmer in Shanghai und einem in Stuttgart gibt es mehr Solidarität, als zwischen einem Arbeitslosen in Prag und einem in Piräus. Ein Aktienbesitzer in Miami fühlt sich einem Fondmanager in Madrid stärker verbunden, als alleinerziehenden Supermarktkassierinnen in Liverpool, Leipzig und Linz. Das war nicht immer so, aber es ist heute so.
Die Familie. Dort, wo wir eine suchen, finden wir keine. Möglicherwiese hantieren wir nämlich mit der falschen Metapher. Europa ist keine Familie, Europa ist ein Patient. Ein sehr junger, ängstlicher Patient, der sich für gesund hält, obwohl er nach einem voodoo-ökonomischen Motorradunfall mit multiplen Knochenbrüchen und inneren Verletzungen auf der Intensivstation liegt. Seine Verletzungen bezeichnet er als Heilungserfolge, Schmerz zeiht er der Verlogenheit, das Fieber hält er für eine Einbildung der Ärzte. Europa hustet und spuckt Lungenblut, raucht aber weiter die amerikanischen Zigaretten aus Nachbars Lade. Europa ist ein Patient mit sehr speziellen Bedürfnissen.
Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 14.3.2015.

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