Pillen für den Herbst

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Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 4.10.2014.
In der ersten Publikation meiner Schullaufbahn, dem ”Lesebuch für kleine Leute” nimmt der Herbst eine tragende Rolle ein. 1966 war das, ein knappes Jährchen vor dem Summer of Love. Erzähltechnisch befinden wir uns noch in der Nachkriegszeit. Das Lesebuch bildet einen idealisierten Herbst in der heimatlichen Großstadt ab, niemand hustet, niemand schnupft, kein Lichtverlust trübt das Seelenwetter. Alle Lachen sich den Herbst schön, sogar der Obsthändler, der ungehobelte Obstkisten voll pampiger Zwetschgen auf seinen klapprigen Leiterwagen hievt. Unterm Apfelbaum gehts lustig weiter. Unter Anleitung des männlichen Familienvorstands werden rotbackige Äpfel vom Baum gedreht. Uneingedenk der Tatsache, dass Wiener Kinder vieles hatten, aber gewiss keinen Familien-Obstbaum. Den Autoren des Lesebuchs war das bekannt, weshalb sie auch den tatsächlichen Herbstbaum der Stadt in den Fokus der Ernteberichterstattung rückten: Den Kastanienbaum. Dessen Früchte, von stacheliger Schale beschützt, hatten keinerlei offiziellen Nutzen, sie taugten nur zur Herstellung von zündholzbeinigen Phantasietieren. Trotzdem wurde hier geerntet, was die Körbe aufnahmen. Wind und Wetter im Lesebuchherbst werden zu leuchtendgelben Erzählungen fliegende Laubes und fortrollender Hüte ausgewalzt. Ein klappriger Greis mit Stock wird vom Herbststurm durch den Park geschmissen. Heissa, auch die Alten haben’s schön! Sonntags geht es munter weiter durch den Herbst des Jahres 1966. Der Vater, ein Gutausseher mit Kreppsohlen und James-Bond-Sakko lässt zum Gaudium seines schulpflichtigen Nachwuchses einen gelbgesichtigen Drachen steigen, dessen Frisur (zwei abstehende Riesenquasten) jene eines späteren Landeshauptmanns vorwegnimmt. Sogar die Unbilden herbstlicher Regenstürme sind schulbuchseits so lustig wie eine Karusselfahrt. Nasse Beine und umgestülpte Regenschirme künden von Abenteuer und nicht von Grippe. Hund “Tim” springt durch Pfützen aus Mineralwasser. Nur Mama und Oma arbeiten hart. Die eine steht am Herd und rührt Einbrenn, die andere sitzt im Lehnstuhl und strickt sich eine Weste gegen das Zipperlein.

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