Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 31. Mai 2014
Ein orientalisches Mädchen aus gutem Haus (die Maid Europa) spielt mit ihren Freundinnen am Strand und denkt sich nichts dabei. Ein machtvoller Konzernherr (Zeus) mit eindeutigen Absichten aber eifersüchter Gattin (Hera) verliebt sich in das junge Ding. Vorderlistig verkleidet sich der Vorstandsvorsitzende als Stier – im Einklang mit seinen Möglichkeiten als besonders kräftiges, aber sehr friedlich aussehendes Exemplar mit makellosem, schneeweißen Fell und kleinen Hörnern, die aussehen, als habe sie ein Künstler angefertigt. Zeus mischt sich unter die Stiere, die Europas Daddy durch einen marktliberalen Mitarbeiter (Hermes) auf den Strand hat treiben lassen. Es kommt, wie es kommen muss, Europa freundet sich mit dem bovinen Verführer an, verliert jede Furcht, spielt mit dem Stier, füttert ihn, streichelt ihn und umwindet seine Hörner mit Blumengirlanden. Übermütig steigt Europa auf den Rücken des Stiers, worauf dieser ins Wasser trippelt und mit dem Mädchen aufs offene Meer hinaus schwimmt. Stier und Europa migrieren nach Kreta, wo Zeus seine Rindsgestalt ablegt, sich als Machtmann offenbart und hurtig drei Kinder zeugt. Der fremde Erdteil wird nach Europa benannt. Kreta wirft den Namen der Stierfreundin recht bald Richtung Balkan ab, von wo er still und einigermassen heimlich ins Reich der Nebel und der langen Nächte entfleucht. Die Jahrhunderte vergehen, die Völker schlagen sich die Schädel ein, mal regiert das eine, mal das andere, bis eine allgemeine Ermüdung eintritt. Die Könige der Nebelgegenden (sie nennen sich Präsidenten und Kanzler) gründen ein Großland, das sie “Europäische Union” nennen und das heftigen Zulauf hat. Zeus und Stiere am Strand gibt es längst nicht mehr und auch kein Bewusstsein für den Kern der Geschichte. Dass Europa eine Phönizierin aus dem Orient ist, würde ihnen jetzt garnicht in den Kram passen. Dass sie, von gierigem Schlepper entführt, übers Meer kam, ebensowenig. Bleibt das Mythenbild des machtgierigen, aber täuschenden Verführers mit besten (Obacht!) Absichten. Die Union der Vaterländer sollte eigentlich nach Zeus benannt sein.