Stilwechsel – Conchita

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Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 17. Mai 2014.
Eine Frau mit Vollbart hat den Songcontest gewonnen und die Welt steht Kopf. Die Zuordner sind verwirrter als die Zuseher, sie wollen wissen woran sie sind. Mal wollen sie Conchita von der unbefleckten Empfängnis abgeleitet wissen, mal von der Muschel. Sprachbegabtere erkennen die bipolare Konstellation von Muschi und Wurst und deuten diese je nach dem Grad ihres Aufgeklärtseins als gotteslästerlichen Unfug, lustigen Faschingsklamauk oder metagenialen Kunstgriff. Männer mit zarter Physiognomie (Putin), Vertreter der Brachialkomik (Poier) und gefühlsbereite Sänger mit Bärten (Sido) fühlen sich decouvriert und reagieren mit hysterischem Gezeter. Die einzig Normale in diesem Spiel der Identitätsverwirrungen scheint die Protagonistin selbst zu sein. Conchita ist die Verachtung ihrer Gegner relativ Wurst. Und dann doch nicht. Als der Zwölfpunkteregen einsetzt, fliessen ihre Tränen. Es sind alle Tränen, die der kleine Tom aus dem noch kleineren Mitterndorf dort und auf dem Weg nach Grandprixhausen geweint hat. Es sind alle Tränen, die je Schwache und Ausgegrenzte geweint haben. Egal welchen Geschlechts, egal welcher Orientierung. Von Reykjavík bis Baku.
Politisch beseelte hatten schon während des Abstimmungsvorgangs erkennen wollen, dass ein Riss durch Europa gehe. Hie der menschenfreundliche und genderliberale Westen, dort der rückständige und intolerante Osten. Das Bild eines Kalten Krieges der sexuellen Orientierung hielt so lange, bis bekannt wurde, dass die Telefonabstimmungen in ganz Europa – bis in die Zerfaserungen an seiner östlichen Peripherie – zugunsten von Conchita ausgegangen waren. Es waren die Expertenjurys gewesen, die sich gegen die Sängerin ausgesprochen hatten. Was sagt uns das? Jenseits von Musik und Geschmack, Sexualität und Orientierung erzählt uns der Osten von seiner Unsicherheit. Das Auseinanderklaffen von Publikum und Jury ist ein Ausweis dieser Unsicherheit. Das Volk ist nicht in den Eliten angekommen und die Eliten nicht im Volk. Dass Conchita Wurst und ihr Konzept einer Überwindung aller Gegensätze aus Österreich kommt, ist kein Zufall. Die Grenze zwischen Ost und West läuft genau durch uns durch. 

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