Für die Weihnachtsausgabe der Salzburger Nachrichten vom 21.12.2013.
Aus dem Traum gibt es, das Aufwachen einmal ausgenommen, kein Entkommen. Das macht Albträume zu bösen Abenteuern, Glücksträume zu wundersamen Paradiesfahrten. Wachen wir auf, beim Grenzübertritt aus der zauberischen Seelengegend, nehmen wir Erinnerung mit. Manchmal. Zu selten. Meist verblasst der Traum, während die Welt wieder in uns tritt.
Ich habe einen Traum. Was für ein schöner Satz! Er erzählt vom Ausflug in unser Innerstes, macht das Zeitlose zum Zukunftswunsch. Ich habe einen Traum heißt mehr, als der Satz bedeutet, es heißt, einen Traum zu haben von einer Welt, die es nicht gibt, deren Existenz wir uns aber wünschen. Dieser Traum ist nur scheinbar ein gehabter, vielmehr ist er ein seiender, ein wiederkehrender, ein ungestillter, ein Traum von Dauer. Ein ganz anderer als der Traum im Schlaf.
Ich habe solch einen Traum. Mein Kopf sagt mir, dass er unerfüllt bleiben wird, mein Herz hingegen hält den Traum am Leben und heißt mich, ihn zur erzählen, wann immer es dafür Gelegenheit gibt, wann immer danach gefragt wird. So träume ich denn, wider besseres Wissen, aber im Einklang mit meinem Gewissen von einer besseren Welt. Sie ist besser für viele und schlechter nur für manche. In meinem Traum hat die Freiheit einen besseren Klang, als sie ihn hier und heute hat. Ich träume von der Freiheit der Menschen. Ich träume davon, dass sie gleich sind an Chancen und Möglichkeiten. Dass sie Hilfe bekommen, wo und wann sie welche brauchen. Dass sie Zugang haben zu Bildung und Ausbildung, dass die Allmende für das Glück sorgt und nicht der individuelle und nur allfällige Profit. Dass die Gemeinschaft den Segen stellt und nicht der Wettkampf. Wenn der Preis für den Wohlstand aller der Verzicht auf den Reichtum weniger ist, dann möge dieser Preis bezahlt werden. Wenn manche aus Angst vor der guten Welt diese anderen vorenthalten, dann möge gegen diese Angst vorgegangen werden. Auch die Freiheit von Angst weht durch meinen Traum wie würziger Frühlingswind. Mein Traum von der besseren Welt ist längst nicht fertiggeträumt. Wie in Träumen üblich, ist vieles in meinem Traum undeutlich, ungesagt, unbedacht. Muss gedeutet werden, gesagt, bedacht.
Von Jean Paul stammt die bittersüße Erkenntnis, der nach die Erinnerung das einzige Paradies sei, aus dem man nicht vertrieben werden könne. Im Wissen um die Hermetik des Idealen träume ich denn auch privat von einer Spezialwelt des Besseren. Einer Welt, in der ich schon mal war. Einer Welt des Gewesenen. Ich träume von den kleinen Äderchen in den Backen meines Großvaters, träume davon, in die warmen Primeln zu greifen in der Ostersonne, träume, meine Mutter lachen zu sehen, wenn sie Holunderblüten in den Teig taucht. Ich träume vom Waten im Moor, vom irren Farbglanz der Libellen, vom Tanz der Schmetterlinge im hohen Gras, vom tiefen Dunkel des kühlen Sees, vom Geruch des sonnenverbrannten Pritschenholzes. Träume von der Fahrt in den Süden, von der schnurgeraden Straße und vom salzigen Wind. Träume vom ersten Anblick des Meeres, träume vom Dampfer nach Triest, träume vom Lachen meiner Brüder, vom roten Hut meiner Schwester. Ich träume vom Tag, als mein Vater Winnetous Federschmuck trug, träume vom ehrfürchtigen Sitzen unter dem Santa-Croce-Berg, vom Klettern auf den schiefen Turm, vom ersten Blick durch eine Kamera. Ich träume davon, das Buch aus der Leihbücherei auf das sonnenwarme Bett zu werfen und die Reise nach Pernambuco anzutreten, träume davon, im Wald den wilden Knofel zu suchen. Ich träume von der Staubwolke, die der Alfa vom Kellner des Teichwirts hinter sich herzog, träume von Johnny Cecotto, Jairzinho und Jimi Hendrix, träume von der Saturn V und dem ersten Mann auf dem Mond und auch vom zweiten, träume von meiner ersten Füllfeder und der Zigarette am Schärenfels und auch vom Joint im regennassen East Village. Ich träume vom Espresso in Bologna und vom Grappa in der Stazione Roma Termini, vom Flirren der Luft im Zug hinter Taranto, von den Palmen Sibaris, von Paris und meiner französischen Familie, vom Feuer der Revolution und vom Pflasterstrand vor dem Café Les deux Magots, ich träume vom Prosciutto und vom Pecorino, von den Oliven und vom Rotwein, gegenüber vom Hotel gekauft, träume von der Brunnenkresse und ihrem orangen Leuchten, träume vom offenen Tor des Hofes und davon, wie Vater hindurchging, träume von der Dame mit dem Hermelin, von der Russin mit den Polaroids, von der Liebe und vom Schmerz, vom Auftrocknen der Tränen nach dem Hinfallen, träume vom sanften Rauschen der schwedischen Bäume und vom Licht, das mir gegeben ward. Träume von Fähren und Fahrten, von den Wellen und vom Wind. Und vor allem träume ich von einem.
Vom Träumen selbst.