Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 10/2013
Liebe Frau Andrea,
als nun mehr schon seit 30 Jahren nach Wien zugereiste „Gsibergerin“ las ich gestern, dass “Liesl” die Sonne sei und das ist mir nun wirklich neu. Das verstehe ich überhaupt nicht. Sollte die Ex-Ministerin Gehrer mit der Sonne verglichen werden? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Fühlte sie sich so mächtig wie der Sonnenkönig Louis XIV ?
Vielen Dank und freundliche Grüße,
Dorothea Schaffernicht
Liebe Dorothea,
die Liesl ist ein urwiener Ausdruck für unser Zentralgestirn, die Sonne. Kenner beklagen einen Rückzug des Ausdrucks aus der Alltagssprache der Bundeshauptstadt. Die Etymologie gilt in den einschlägigen Wörterbüchern und Dialektlexika des Wienerischen als ungeklärt. Wie in anderen Fällen verdunkelter Herkunft dürfen wir als Transporteur das Rotwelsche, die mitteleuropäische Gaunersprache ausmachen. Auch hier wird mit “Liesel”, “Liesl”, “Lisl” nicht die kleine Elisabeth bezeichnet, sondern die Sonne. Mit grösster Wahrscheinlichkeit kommt “Liesl” aus einer slawischen Sprache. Ein Verwandter der Sonne, der Sommer heisst im Slawischen sehr ähnlich – tschechisch “léto”, serbisch, russisch, slowakisch, mazedonisch “leto”, kroatisch “ljeto”, ukrainisch “lito”, polnisch “lato”. Julius Pokornys indogermanisches etymologisches Wörterbuch verzeichnet zur Silbe “lēto-”, “lǝto-” “warme Zeit”, Tag, Sommer. So kennt das Altirische “la(i)the”, den Tag, das Gallische “lat…”, die Tage. “Lěto” bezeichnet nach Pokorny im Altbulgarischen die warme Jahreszeit, im Russischen und seinen Dialekten den Sommer, den Südwind, den Süden. Unserer “Liesl” lautlich am nächsten sind niedersorbisch Lěśe und obersorbisch Lěćo.
Möglicherweise ist die sorbische Sonne in einer ganz anderen Liesl ausgewienert. Als Liesl gilt das Polizeigefangenenhaus an der Rossauer Lände, sie ist in der Wiener Halb- und Unterwelt das Synonym für Gefängnis. Die Liesl hat ihren Namen von ihrer ursprünglichen Adresse, denn die Rossauerlände hiess in der Monarchie Kaiserin-Elisabeth-Promenade. Eine 2er-Liesl gibt es auch. Unter diesem Namen ist das Schubgefängnis am Hernalser Gürtel bekannt, während das Landesgerichtliche Gefangenenhaus bürgerlich als “Graues Haus” und weniger bürgerlich als “Landl” bezeichnet wird. www.comandantina.com dusl@falter.at