Der Nächste, bitte!

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 15/2012
Liebe Frau Andrea,
die “taz” hatte einst eine Kolumne, die „Letzte Fragen“ hieß. LeserInnen stellten eine Frage, andere gaben Antworten. Seit langem schwirrt mir eine der „Letzten Fragen“ durch den Kopf, für die die deutschen taz-LeserInnen einfach keine gute Antwort fanden. Wissen Sie aus dem katholischen Österreich eine? Die Frage, die die taz-LeserIn und mich beschäftigt: Warum soll ich meinen Nächsten lieben und nicht meinen Jetzigen?
 
Mit herzlichen Grüßen,
Maria Josefi, per Elektronachricht
Liebe Maria,
Sie dürfen Ihren Jetzigen lieben, müssen es aber nicht. Auch beim Nächsten können Sie den Grad ihrer Zuneigung ganz nach individueller Vorliebe bemessen. Jetzt schon. Sie können, wiewohl das Komplikatonen mit sich bringt, sowohl den Jetztigen als auch den Nächsten lieben, ja auch den Vergangenen oder derer mehrere. Viele Zeitgeniessenden praktizieren diese und ähnliche Modelle. Ob ich berufen bin, die Antwort auf Ihre Frage einer Schärfung zuzuführen, muss offen bleiben. Wiewohl ich in Schnitzelland praktiziere, bin ich weder Österreicherin noch katholisch. Ich bin Hochgrad-Wienerin. Und als solche befugt, weitere Fragen aufzuwerfen. Etwa die nach der Qualität eines Witzes. Oder jene nach der Qualität der deutschen Sprache, die keine Unterscheidung macht zwischen örtlicher und zeitlicher Bezogenheit. Woher der Nächste kommt, kann ich beantworten. Aus dem Tanach nämlich, der Heiligen Schrift der Juden. Dort ist “reah”, der Nächste, immer ein konkreter, gerade anwesender oder zum Gesichtskreis eines Israeliten gehörender Mitmensch. Die Nähe ergibt sich aus der aktuellen Beziehung zu diesem, sie kann für Nachbarn, Nahestehende, Geschwister, Freunde und Verwandte, ja auch nur für “jemand” oder “einen Menschen” gelten. Aus dem Tanach ist der Nächste, der Nahe (griechisch: πλησίον, plésion) über die Septuaginta in den Bibelkanon der Christen ausgebüchst. Mit allen dort geltenden moralischen Bedeutungen. Diese können wir bei all jenen, die die taz-Frage als semantischen Witz begreifen, als bekannt voraussetzen. Nicht aber die Herkunft des deutschen Wortes “nahe”. Es ist nach Etymologenmeinung am ehesten eine Adjektivbildung aus der lokalen Partikel *nē, mit der Bedeutung auf, an, zu, geneigt. Liebe also den Geneigten. Wie die Pisaner ihren Turm.
www.comandantina.com dusl@falter.at

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