Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 07/2012
Liebe Frau Andrea,
bei allen Unannehmlichkeiten hat so eine Kältewelle auch sehr schöne Seiten. Auf meinen Fenstern wachsen wunderschöne Eisblumen. Ich kenne die nur aus Erzählungen. Liegt es an der Wiener Luft? Und wieso wachsen die Eiskristalle überhaupt in Blumenform?
Mit besten Grüßen,
Lidi Gulder, per Elektrobrief
Liebe Lidi,
Eisblumen an den Fenstern unserer Wohnungen sind tatsächlich ein seltener Anblick geworden. Und sie wachsen auch nicht an jedem Fenster. Klimatische Wetterbedingungen müssen raumklimatischen Situationen begegnen. Ideale Bedingungen für das Wachsen von Eisblumen liefern Tieffrostperioden und Wiener Altbauwohnungen in prethermofenestralem Zustand. Kristallfarne wachsen auf alten Kastenfenstern besser, als, ja wenn überhaupt, auf modernen Thermoglassscheiben. Gasherde und das Kochen von Suppen, weichen Eiern und Spaghettiwasser fördern die Fenstereisflora wesentlich stärker, als die Kartonpizza in der Mikrowelle und das Kurzanbraten von Mintensteaks am Elektro-Herd. Duschen ist besser für die Kristalle als Baden, ausgiebiges Heissduschen produktiver als lauwarme Katzenwäsche. Fassen wir zusammen: Draussen muss es bitterkalt sein, drinnen feucht. Aus dem Physikunterricht erinnern wir uns daran, dass warme Luft mehr Feuchtigkeit halten kann, als kalte. Feuchte Luft kondensiert an kalten Oberflächen, das kennen wir vom kühlen Bier im Hochsommer. Altwiener Kastenfenster, sie bestehen aus einem inneren und einem äusseren Flügelpaar, bieten gute Bedingungen für Eisblumenwachstum. Warme, feuchte Luft kondensiert an der Innenseite der äusseren Fenster. Und nur hier. Wenn es draussen hinreichend kalt ist, wemn es, wienerisch gesprochen “einen Festen Zapfen hat”, gefriert das Kondenswasser zu Eis. Kleine Unebenheiten, Kratzer und Schlieren liefern die Bahnen für das Wachstum der Kristalle. Diese wachsen in der Regel von unten nach oben, von den Rändern zur Mitte hin. Untere Scheiben produzieren mehr und grössere Kristalle als Scheiben weiter oben. Poetischerseits darf angemerkt werden, dass die Formen der Scheibenkristalle weniger an Blumen erinnern, als an scharflappige Farne und Distelgestrüpp. Man möge daher in Zukunft von Eisgedistel und Frostfarnen sprechen. www.comandantina.com dusl@falter.at