Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 03/2012
Liebe Frau Andrea,
im Standard vom 12. November letzten Jahres las ich über den langsamen politischen Absturz des weißrussischen, diktatorisch herrschenden Präsidenten Alexander Lukaschenko. Dort steht: „Heute würden nur noch 20 Prozent Lukaschenko wählen, da es keine Wahlen gibt, stimmt das Volk mit den Füßen ab.“ Wie ist diese Redewendung zu verstehen? Mit Neugierde erwarte ich Ihre aufklärende Antwort.
Hochachtungsvoll, Christoph Patak, Wien 14,
per Elektrobrief
Lieber Christoph,
die Redewendung, die Kollege André Ballin von der lachsfarbenen Tageszeitung erwähnt, ist wegen der Eindrücklichkeit des sprachlichen Bildes, das sie erzeugt, auch in anderen Sprachen gebräuchlich. Gemeinhin wird der US-amerikanische Ökonomie-Professor an der University of Washington, Charles Mills Tiebout (1924-1968) mit dem Diktum assoziiert. Tiebout polemisiert 1956 damit gegen den körperlichen Umzug in ein anderes Land – eines, das der jeweils eigenen politischen Ideologie näherstehe, als das, in dem man aufgewachsen sei. Die Abstimmung finde mit den Füssen statt, ein Ändern der Regierung und ihrer Politik durch das Votum werde nicht erwogen. Eine erste Konjunktur des Begriffs leiteten 1961 bundesdeutsche Kommentatoren ein, die die Flucht aus der DDR als “Abstimmung mit den Füssen” bezeichneten. Josef Müller-Marein, zu dieser Zeit Chefredakteur der ZEIT, erweitert das Sprachbild am 21.07.1961 in seiner Wochenzeitung. Er schreibt von den Bauern “Sowjetdeutschlands”, die “mit den Füßen gegen das Regime gestimmt” hätten: “zuletzt im Sommer 1960, als Ulbricht die Landwirtschaft kollektivierte. Soweit sie daheim blieben, stimmten sie dann auch auf andere Weise gegen Ulbricht: mit den Händen in der Hosentasche.” Auch der Mauerfall und das Ende der DDR sollten 28 Jahre später generell als “Abstimmung mit den Füssen” bezeichnet werden. Als tatsächlichen Autor des Begriffs dürfen wir den russischen Politiker und Demagogen Wladimir Iljitsch Uljanow ausmachen, niemand geringeren als Lenin. „Sie stimmen mit den Füßen ab“, kommentierte dieser 1918, nicht ohne spöttischen Unterton die Entscheidung der russischen Armeen, nicht mehr zu kämpfen, sondern die Linien zu verlassen und schlicht und einfach heim zu gehen. www.comandantina.com dusl@falter.at